[EN: manifest]
Gerhard Stemberger, Wien und Berlin
Der in der gestalttheoretischen Literatur häufig verwendete Ausdruck „anschaulich“ bezieht sich darauf, dass für den Menschen (im Unterschied zu manchen anderen Lebewesen) aufgrund seiner Existenzbedingungen das „Schauen“ in der Regel der wichtigste Modus der Erfassung der Welt und der Orientierung in ihr ist. Das schließt jedoch andere Modi wie etwa das Hören, Tasten, Spüren, Riechen, Schmecken, die für manche andere Lebewesen wesentlich wichtiger als das Schauen sind, auch beim Menschen keineswegs aus – sie sind mitgemeint, wenn vom „anschaulich Angetroffenen“ die Rede ist. Die Gestalttheorie geht ja auch von einer „Einheit der Sinne“ aus (Hornbostel 1925), in der beim Menschen in den meisten Situationen die „Gesichtswahrnehmung“ (womit das Sehen gemeint ist) die Führung hat, ohne deswegen isoliert von den anderen Modi des Erfahrens der Welt und seiner selbst zu sein.
Auf den ersten Blick mag diese Ausdrucksweise antiquiert erscheinen. Ihr Vorteil besteht jedoch darin, dass sie klarer als z.B. „visuelle Wahrnehmung“ ausdrückt, dass es hier um phänomenale, also Erlebnissachverhalte geht und nicht etwa um die physiologischen Abläufe im visuellen System.
Literatur:
Hornbostel, Erich v. (1925): Die Einheit der Sinne. Melos (Zeitschrift für Musik), 4, 290-297.