[EN: health / illness]
(Komprimierter Auszug aus: Stemberger, G. (2000): Gestalttheoretische Beiträge zur Psychopathologie. Gestalt Theory, 22, 27-46. Auch enthalten in: Stemberger, G. (2002), Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis. Gestalttheorie und psychotherapeutische Krankheitslehre. Wien: Krammer, 16-22)
1) Auch pathologisches Verhalten und Erleben ist geordnetes Geschehen. Krankes und gesundes Geschehen, kranke und gesunde Entwicklung sind nicht grundsätzlich verschiedener Art, sondern unterliegen den gleichen Gesetzen, „nur dass eben andere psycho-pathologische Konstellationen vorliegen und daher äußerlich andere Erscheinungen eintreten“ (Lewin 1929/2009, 84, Bezug nehmend auf Kurt Goldstein)
2) Zum angemessenen Verstehen krankhaften Geschehens ist die Organisation des gesamten persönlichen, sozialen und historischen Feldes ins Auge zu fassen, innerhalb dessen das augenblickliche Geschehen nur ein Teil ist.
3) Der Mensch wird nicht als Ansammlung starres Apparaturen aufgefasst, die nach dem Prinzip einfacher oder auch komplexerer Maschinen funktioniert, sondern als offenes, dynamisches System, das imstande und bestrebt ist, ausgezeichnete Gleichgewichtszustände herzustellen, aufrechtzuerhalten und unter geänderten Bedingungen neuerlich wiederherzustellen.
4) Die Wiederherstellung eines gesunden Gleichgewichtszustandes mit oder ohne äußere Einwirkung kann nur auf der Grundlage der inneren Selbstregulierungskräfte zustande kommen, die dem Menschen innewohnen.
5) Krankhaftes Geschehen ist nicht einfach als Glied in einer unendlichen Kausalkette von Ursache und Wirkung zu betrachten, das Augenmerk muss der dynamischen Struktur des Gegenwärtigen gelten. Die Lebensvorgänge sind als Aufeinanderfolge von Bedingungskonstellationen aufzufassen, in denen unter definierten Bedingungen echte, neue Anfänge möglich sind, auch echte Heilungen schwerster Störungen.
6) Bei dieser Aufeinanderfolge von Bedingungskonstellationen ist der gestalttheoretische Ansatz nicht festgelegt oder eingeschränkt auf ein fixes Repertoire solcher Abfolgen im Sinne von normierenden Stadientheorien oder dergleichen. Alles, was das Leben bringt, bringt zugleich die Notwendigkeit mehr oder weniger großer Veränderungen des Fließgleichgewichtes. Das hindert zugleich nicht daran, die für eine bestimmte Zeit, Kultur, Gesellschaftsform typischen Abwandlungen jener Umbrüche besonders ins Auge zu fassen, mit denen praktisch jeder Mensch im Lebenslauf konfrontiert ist und die größere Umstrukturierungen erfordern (z.B.: Pubertät und Erwachsenwerden)
7) Mit Bedingungskonstellationen meint die Gestalttheorie in erster Linie Bedingungskonstellationen im psychischen Feld, und Analyse der Bedingungskonstellationen bedeutet: Analyse der in diesem Feld für das gegenwärtige Geschehen bestimmenden dynamischen Konstellation der Feldkräfte. Darauf ist auch die Modellbildung für bestimmte pathologische Prozesse ausgerichtet.
8) Mit Feld ist gestalttheoretisch – im Unterschied zu anderen Verwendungen des Feldkonzeptes – in diesem Zusammenhang in erster Linie das phänomenale (bzw. anschauliche) Gesamtfeld unserer phänomenalen Welt gemeint (Grundlage: kritisch-realistische Verdoppelung der Welt)
9) In diesem phänomenalen Feld ist das Ich nur ein spezieller Teilbereich, der in dynamischer Wechselbeziehung zu seiner anschaulichen Umwelt steht. Krankhaftes Geschehen wird nicht nur aus Vorgängen innerhalb des der Person zuzurechnenden Bereichs des psychischen Feldes abgeleitet (wie dies in beinahe allen anderen Krankheitslehren, von der Psychoanalyse angefangen, geschieht), sondern aus der dynamischen Wechselbeziehung zwischen erlebter Person und erlebter Umwelt.
10) Die Gestalttheorie trifft keine Vorannahme darüber, wie dieses psychische Feld strukturiert ist. Insbesondere trifft sie nicht die Vorannahme, dass das Ich immer der natürliche Mittelpunkt oder Schwerpunkt der anschaulichen Welt ist, von dem alles ausgeht und auf den alles zusammenläuft und sich bezieht. Im Gegenteil: Ein Mensch, der unabhängig von der jeweiligen Struktur und Dynamik der Situation in solcher Zentrierung fixiert ist, wird aus gestalttheoretischer Sicht bereits als schwer behindert angesehen, wovon krankhafte Störungen ihren Ausgang nehmen können.
11) Es wird davon ausgegangen, dass in der Ich-Welt-Beziehung den anderen Menschen in diesem Umfeld und der Beziehung zu ihnen besonderes Gewicht zukommt. Nicht alle, aber ein großen Teil psychischer Störungen können dieser Auffassung nach von einem gestörten Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seinen Mitmenschen ihren Ausgang nehmen.
12) Die konkrete Art der leib-seelischen und leib-leiblichen Wechselwirkungen ist in der Gestalttheorie nicht durch Vorannahmen festgelegt, sondern bleibt der konkreten Untersuchung vorbehalten. Das damit verbundene Verständnis des Leib-Seele-Problems drückt sich auch im Satz aus: „Die somatische Schädigung eines Hirnteils wird qualitativ auch andere Wirkungen haben als das Eintreffen einer schrecklichen Nachricht; nicht deshalb, weil das erstere ein physisches, das letztere ein psychisches ist, sondern darin, dass die Wirkungen (bei beiden im Physiologischen und im Psychischen) im ersteren Fall gröber, unvermittelter, schroffer sein werden.“ (Schulte 1924)
Gerhard Stemberger (Hrsg.): Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis. Gestalttheorie und psychotherapeutische Krankheitslehre
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 098 | 184 Seiten | Preis 25,00 Euro