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Gruppe

[EN: group]

Thomas Stöcker, Potsdam

Was ist eine Gruppe?

Ist sie ein Gedankending oder ist sie etwas Wirkliches? Die Antwort Lewins (1975) darauf lautet, dass eine Gruppe genauso wirklich ist wie die Menschen, die ihr angehören. Sie hat Eigenschaften wie z.B. eine Struktur, eine Atmosphäre, die man nur ihr, aber keinem ihrer Mitglieder zuschreiben kann. Die Angehörigen einer Gruppe haben in ihr neue Eigenschaften, die sie ohne die Gruppe nicht haben, ihre Rollen.

Was macht die Realität einer Gruppe aus, im Unterschied zu einer Ansammlung von Einzelindividuen?

Kurt Koffka (1935) greift zur Beschreibung des Phänomens Gruppe auf das Beispiel der Melodie zurück, die sich durch das strukturelle Zueinander der Töne definiert. Die Töne sind beliebig veränderbar, aber die Melodie bleibt solange bestehen, solange das strukturelle Zueinander (im Fall der Töne die Intervalle) nicht verändert werden. Gruppen haben Gestaltcharakter und definieren sich über die Verbindungen untereinander. Zwar können bei der Gruppenbildung die gleichen Gestaltgesetze wirken wie bei den Objekten der Wahrnehmungswelt, nach Lewin (1975) ist aber die wechselseitige Abhängigkeit der stärkste Faktor für die Bildung von Gruppen. Die entscheidenden Kennzeichen einer Gruppe sind das Gefühl der Zugehörigkeit ("Wirgefühl") und die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder voneinander.

„Nicht Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit entscheidet, ob zwei Menschen den gleichen oder verschiedenen Gruppen angehören, sondern soziale Wechselwirkungen oder andere Typen gegenseitiger Abhängigkeit. Eine Gruppe ist am besten zu definieren als ein dynamisches Ganzes, das mehr auf gegenseitiger Abhängigkeit als auf Ähnlichkeit beruht.“ (Lewin 1975, 256 f).

Wie stark beeinflusst die Gruppe das Verhalten des Einzelnen?

Nach Metzger (1986) hängt der Einfluss der Gruppe auf das Individuum vom Entwicklungsstand des Menschen ab. Während das Verhalten und die Entwicklung des Kleinkindes in großem Maße von der Gruppe determiniert wird, in die es hineingeboren wird, wird das Verhalten eines Erwachsenen, der einem Club beitritt, nicht in gleichem Maße beeinflusst. Neben den Einflüssen der Gruppe gibt es natürlich auch einen Kern biologischer Voraussetzungen, der die Entwicklungschancen eines Menschen bestimmt und der durch das Leben in der Gruppe unter Umständen wenig zu beeinflussen ist (Beispiel: gehörloses Kind in einer Gruppe mit normal ausgeprägtem Hörvermögen).

Nach Lewin (1975) bildet die Gruppe den Boden für unsere soziale Existenz, genauso wie der physikalische Boden die Grundlage unserer physischen Existenz ist. Ist sich ein Mensch über seine soziale Zugehörigkeit im Unklaren, kann er nur schwer eine Zukunftsperspektive oder Moral entwickeln, die die Grundlage für zielgerichtetes Handeln bilden. (Lewin 1975, 152 ff.)

Wie viele Menschen sind eine Gruppe?

Nach Lewin (1975) können bereits zwei Menschen eine Gruppe bilden, die sich nach den gleichen Gesichtspunkten gestaltet wie größere Gruppen. Ein Mensch ist in der Regel gleichzeitig Mitglied mehrerer Gruppen (Familie, Verwandtschaft, Berufsgruppe, politische Partei, Nation, usw.), was kein Problem ist, solange die Gruppen nicht Ziele verfolgen, die sich gegenseitig ausschließen. Entscheidend ist das Gefühl der Zugehörigkeit.

Durch welche Merkmale der Gruppe wird das Verhalten der Mitglieder beeinflusst?

Das Verhalten der Gruppenmitglieder wird im wesentlichen von zwei Kennzeichen der Gruppe beeinflusst: zum einen von der sozialen Identität der Gruppe, deren zentralen Werten, Zielen, Idealen, und zum anderen von den Grenzen oder Barrieren der Gruppe, durch die sie von anderen Gruppen getrennt ist. Die soziale Identität einer Gruppe kann mehr oder weniger stark ausformuliert sein und es kann sowohl eine positive oder negative Valenz von ihr ausgehen. Die Gruppengrenzen und deren Durchlässigkeit können sowohl von der Gruppe selbst, als auch von der sie umgebenden Umwelt bestimmt sein.

Nach Lewin (1975) weisen alle Gruppen, sobald sie sich konstituiert haben („Forming, Storming, Norming and Performing“) eine soziale Schichtung mit Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen und mehr oder minder klar differenzierten Grenzen auf. Dies kann man sich in der Art eines Schalenmodells vorstellen, dessen Kern die zentralen Werte, Ziele oder Stereotypen der Gruppe bilden (soziale Identität). Von diesem Zentrum gehen auf das einzelne Individuum positive und/oder negative Valenzen aus.

Positive Valenzen: Jemand fühlt sich zu der Gruppen hingezogen und mit den Werten und Zielen verbunden.

Negative Valenzen: Jemand schämt sich für seine Gruppe, würde sie am liebsten verlassen, um zu einer besser angesehenen Gruppe zu gehören.

Lewin (1975) hebt hervor, dass eine Gruppe ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Valenzen aufweisen muss. Überwiegen die negativen Valenzen, droht die Gruppe auseinanderzubrechen. Überwiegen die positiven Valenzen, feiert sich eine Gruppe nur noch selbst, die Außensicht wird zunehmend undifferenziert, Personen und Gruppen außerhalb der eigenen Gruppe werden nur noch stereotyp wahrgenommen und es kommt zu Fehleinschätzungen der Umwelt (z.B. chauvinistisches Verhalten, Risikoschub).

Neben den Kräften, die vom Kern einer Gruppe ausgehen, gibt es insbesondere bei benachteiligten Minderheitengruppen auch Kräfte der Umwelt, die den Einzelnen am Verlassen der Gruppe hindern. Wird eine Gruppe im wesentlichen durch äußere Barrieren zusammengehalten, kommt es in der Regel nur zu einem schwachen Wirgefühl oder gar zu Selbsthass (Lewin 1975), der sich gegen die eigene Person oder die eigene Gruppe richtet.

Wird eine Gruppe statt von positiven Valenzen nur von Barrieren zusammengehalten, kommt es nur schwer zu einer ausgeprägten Binnenstruktur. (Keiner beschäftigt sich mit den Zielen oder den Werten der Gruppe, alle sehen nur zu, wie sie die Barrieren, die sie in der Gruppe einsperren, überwinden.)

Zur Gruppe als Raum schöpferischer Freiheit (Psychotherapie)

Die soziale Gruppe ist der Boden des Lebensraums (Lewin 1975) und somit die Quelle von Verhaltensweisen - was liegt also näher, als die Gruppe zum Boden für Verhaltensänderungen zu machen? Gelingt es, die Rahmenbedingungen einer Gruppe so zu gestalten, dass sie ein Raum schöpferischer Freiheit wird, dann bietet sie dem Einzelnen die Möglichkeit, sich der Gruppe mit seiner phänomenalen Sicht der Welt, seinen Einstellungen und Verhaltensweise zu präsentieren und die Kräfte in seinem Lebensraum zu explorieren. Die Gruppe dient hierbei als Prüfstein, an der die eigenen Verhaltens- und Sichtweisen gemessen werden. Sie bietet einen Raum, in dem Zugehörigkeit erfahrbar wird und Vergangenheits- und Zukunftsperspektive sowie die Realitäts- und Irrealitätsebene des Lebensraums überprüfbar und für Veränderung zugänglich gemacht werden kann, um eine pessimistische Sicht des Menschen und des eigenen Lebens zu überwinden (Walter 1985).

Literatur:

  • Beneder, Doris (2019): Im Fokus der Gruppentherapie: Engagierte Zusammenarbeit. Phänomenal, 11(1), 18-28.
  • Koffka, Kurt (1935): Principles of Gestalt psychology. New York: Harcourt.
  • Lewin, Kurt (1975): Die Lösung sozialer Konflikte. Bad Nauheim: Christian Verlag. 4. Auflage
  • Metzger, Wolfgang (1986): Gestalt-Psychologie. Frankfurt Verlag Waldemar Kramer.
  • Walter, Hans-Jürgen (1994): Gestalttheorie und Psychotherapie. Zur integrativen Anwendung zeitgenössischer Therapieformen. 3. Auflage. Opladen.

Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften Ausgewählte theoretische Schriften

2., unveränd. Aufl. 2012

395 Seiten | ISBN 9783456850764| Preis 34,95 Euro

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gruppe.txt · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:26 (Externe Bearbeitung)