[EN: Characteristics of working with the living (living beings and processes)]
Wolfgang Metzger benannte sechs Kennzeichen, in denen sich die Arbeit mit Lebendigem (mit Lebewesen wie Menschen, Tieren und Pflanzen, sowie mit Lebensprozessen) von der Arbeit mit „totem“ Material (der unbelebten Natur, Maschinen und Apparaturen, mechanischen Abläufen etc.) unterscheidet und auszeichnet: 1. Die Nicht-Beliebigkeit der Form, 2. die Gestaltung aus inneren Kräften, 3. die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit, 4. die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeit, 5. die Duldung von Umwegen sowie 6. die Wechselseitigkeit des Geschehens.
Diese Merkmale lassen sich mit den Worten Metzgers in Kürze folgendermaßen charakterisieren:
Man kann Lebendigem „auf die Dauer nichts gegen die eigene Natur aufzwingen“; man „kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem ‚Material’ selbst als Möglichkeit angelegt ist“ (Metzger 2022, 13)
„Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuten Wesen selbst ihren Ursprung“ (13). „Von Dauer sind im Bereich des Lebendigen nur solche Formen, die durch die Entfaltung innerer Kräfte sich bilden und ständig von ihnen getragen und wiederhergestellt werden“ (16).
„Das lebende Wesen kann nicht beliebig auf seine Pflege warten … Es hat vor allem auch seine eigenen fruchtbaren Zeiten und Augenblicke, in denen es bestimmten Arten der Beeinflussung, der Lenkung oder deren Festlegung zugänglich ist. … Wer mit lebenden Wesen umgeht, muss also in viel höherem Maß als der Macher geduldig warten können, andererseits aber, wenn der rechte Augenblick heranrückt, ohne Zögern bei der Hand sein“ (16, 17).
Prozesse des Wachsens, Reifens, Überstehens einer Krankheit haben ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten, die sich nicht beliebig beschleunigen lassen.
„Wer mit der Pflege, dem Aufziehen und der Erziehung von lebenden Wesen zu tun hat, muss überall dort Umwege in Kauf nehmen, wo diese bei der Entwicklung dieses Wesens in seiner Natur angelegt sind“ (19).
„Das Geschehen beim Pflegen … ist wechselseitig. Es ist im ausgeprägten Fall ein Umgang mit ‚Partnern des Lebens’“ (22).
Hans-Jürgen Walter hat diese von Metzger herausgearbeiteten Kennzeichen auf das psychotherapeutische Geschehen übertragen (Walter 1994, 149-154). Er verweist zugleich darauf, dass diese Aufzählung keinen Anspruch auf eine vollständige Erfassung der Besonderheiten der Arbeit mit dem Lebendigen erhebe (er selbst ergänzt sie für die Psychotherapie mit Merkmalen, die er von Kurt Lewin und Carl Rogers übernimmt; 154-161). In der Theorie und Praxis der Gestalttheoretischen Psychotherapie haben diese Kennzeichen einen sehr hohen Stellenwert und geben dem gesamten diagnostischen und therapeutischen Herangehen eine grundlegende Orientierung, die auf der Einsicht in die Eigenart von Lebewesen und Lebensprozessen im Unterschied zu Maschinenmodellen des Menschen und des Lebens beruht. Für Jürgen Kriz geht der Geltungsbereich der Metzger’schen Kennzeichen über die Gestalttheoretische Psychotherapie noch hinaus: „Diese Kennzeichen können durchaus als Maxime für das Handeln humanistischer Psychotherapeuten verstanden werden“ (Kriz 2001, 164).
Gerhard Stemberger (Wien und Berlin)
Literatur:
Dazu der Klassiker der Literatur zur Gestalttheoretischen Psychotherapie:
Wolfgang Metzger: Schöpferische Freiheit - Gestalttheorie des Lebendigen
Herausgegeben von Marianne Soff und Gerhard Stemberger
Die „Schöpferische Freiheit“ ist Wolfgang Metzgers drittes Hauptwerk zur Gestalttheorie - neben seinen „Gesetzen des Sehens“ und seiner „Psychologie“.
Die Neuauflage beinhaltet auch ein Geleitwort von Jürgen Kriz und einen Begleittext von Gerhard Stemberger, Psychotherapie und schöpferische Freiheit.
192 Seiten, ISBN-13: 978 3 901811 80 7; Preis; 26,00 Euro zuz. Versand Bestellungen: info@oeagp.at