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====== Spannungssystem ====== | ====== Spannungssystem ====== | ||
+ | **(tension system; Kurt Lewin)** | ||
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+ | Kurt Lewins Theorie der Spannungssysteme entstand in den 1920er-Jahren. Sie befasst sich mit der Struktur und Dynamik des Seelenlebens und versucht Antwort zu geben auf die Frage, „was uns bewegt“ bzw. wie unser Handeln | ||
+ | eigentlich zustande kommt. Kurz gesagt, ist sie für die Gestalttheoretische Psychotherapie das, was die | ||
+ | Triebtheorie im Denken Sigmund Freuds war. | ||
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+ | Die grundlegenden Ideen zu seiner Theorie der Spannungssysteme formulierte Lewin 1926 in den beiden in der Zeitschrift „Psychologische Forschung“ veröffentlichten Schriften „Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele“ sowie „Vorsatz, Wille und Bedürfnis“. In dem damit eingeleiteten Forschungsprogramm handlungs- und affektpsychologischer Experimentaluntersuchungen seiner SchülerInnen und MitarbeiterInnen am Berliner Psychologischen Institut wurde die Theorie wissenschaftlich-empirisch überprüft und ausgebaut. | ||
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+ | ==== Bedürfnisse und Quasi-Bedürfnisse ==== | ||
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+ | Kern der Theorie ist es, dass Bedürfnisse (z.B. Hunger, Durst, Sexualität, | ||
+ | genannt) Spannungssysteme begründen, die auf Ausgleich in einem neuen [[gleichgewicht|Gleichgewicht]] drängen. Solche Spannungssysteme bewirken, dass die Person entsprechend der jeweiligen Kräftekonstellation im Feld zu Handlungen angestoßen wird, die in Richtung Bedürfnisbefriedigung bzw. Zielerreichung führen. | ||
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+ | Mit Lewins Worten: | ||
+ | „Der innere Spannungszustand kommt zum Durchbruch, sobald die Möglichkeit zur Beseitigung oder wenigstens Milderung der Spannung gegeben erscheint, sobald also eine Situation vorhanden ist, bei der man die Möglichkeit von Handlungen in der Richtung auf das Ziel hin spürt.“ (Lewin 1926 b, 349) | ||
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+ | Die Ergebnisse der berühmt gewordenen Studien von [[https:// | ||
+ | der Fälle) wiederaufgenommen werden als erledigte. Als alltagsnahes Beispiel für diesen Sachverhalt wird in diesem Zusammenhang gerne der Kellner herangezogen, | ||
+ | Begleichung der Rechnung bereits abgeschlossen war. Die zahlreichen Nachfolgestudien zu Zeigarnik und Ovsiankina haben diese Effekte bestätigt, mit der Präzisierung, | ||
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+ | Spannung ist bei Lewin folglich ein Zustand, in dem die Person zum Handeln auf ein bestimmtes Ziel hin bereit oder vorbereitet ist. Er bezieht sich auf den Zustand eines innerpersonalen Systems im Verhältnis zum Zustand der umgebenden Systeme (Lewin 1963/2012, 56). Der Begriff „Spannungssystem“ bzw. bei Lewin „System in Spannung“ muss dabei als theoretischer, | ||
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+ | ==== Psychische Sättigung und Ersatzbefriedigung ==== | ||
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+ | Neben der Tendenz zur Wiederaufnahme von unabgeschlossenen Handlungen und deren besseres Behalten im Gedächtnis unterstützen auch die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen zum Phänomen der **Sättigung** (Karsten 1928) sowie zur **Ersatzbefriedigung durch Ersatzhandlungen** (Lissner 1933, Mahler 1933) Lewins Theorie. Sättigung tritt demnach nicht nur bei biologischen (physiologischen) Bedürfnissen auf, sondern genauso im Bereich geistiger und sozialer Bedürfnisse sowie bei Quasi-Bedürfnissen. Sie ist der Entladung des jeweiligen Spannungssystems gleichzusetzen. Wird eine Tätigkeit über die Sättigung hinaus fortgeführt, | ||
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+ | Da gespannte Systeme auf Ausgleich drängen, kommt es bei Vorliegen von Hindernissen auf das ursprüngliche Ziel hin unter bestimmten Bedingungen zu Ersatzhandlungen (Ovsiankina 1928). Wesentlich ist dabei nicht die äußere Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Handlung, sondern deren Verwandtschaft zum inneren Handlungsziel der Person (Lissner 1933). Der Ersatzwert einer Ersatzhandlung und damit auch deren Eignung, das System in Spannung zur Entladung zu bringen, steigt mit deren Schwierigkeits- und Realitätsgrad; | ||
+ | Konkretes Verhalten, ob eine Vornahme ausgeführt wird oder nicht, hängt also weniger von der Intensität des Vorsatzes (von der „Stärke des Vornahmeaktes“), | ||
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+ | ==== Eigene und induzierte Bedürfnisse ==== | ||
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+ | Hinsichtlich Art und Anzahl möglicher menschlicher Bedürfnisse ist Kurt Lewins Theorie offen. Die Bedürfnisse der Person sind in seiner Theorie nicht vorab festgelegt. Sie entstehen und wandeln sich das ganze Leben über. Eine besondere Rolle kommt dabei nach Lewin (1963/2012, 322) aber sozialen Beziehungen und Faktoren zu. Er verweist auf drei Möglichkeiten, | ||
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+ | - aus einer altruistischen Motivation (eine bestimmte Handlung wird zum Nutzen einer anderen Person ausgeführt), | ||
+ | - können Bedürfnisse durch das [[machtfeld|Machtfeld]] einer anderen Person oder Gruppe induziert werden (z.B. will ein Elternteil, dass das Kind seine Hausaufgaben macht; der Partner will, dass ich einen bestimmten Kleidungsstil pflege,… ) oder entstehen | ||
+ | - durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und den damit einhergehenden Wunsch, ihre Ziele zu teilen und zu befolgen. | ||
+ | Alle drei sind eng miteinander verwoben. | ||
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+ | Induzierte Bedürfnisse können im [[konflikt|Konflikt]] mit den Bedürfnissen der Person stehen und in diesem Fall zu einem andauernden, | ||
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+ | Ging es bisher vorwiegend um die dynamischen Aspekte einzelner Spannungssysteme, | ||
+ | eingebettet in umfassendere seelische Komplexe und stehen in Kommunikation mit anderen Quasi-Bedürfnissen | ||
+ | und Bedürfnissen. | ||
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+ | ==== Nicht statisches, sondern Fließgleichgewicht ==== | ||
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+ | Für den Bereich des Psychischen (wie für viele andere Systeme auch) können wir nach Lewin eine [[gleichgewicht|Gleichgewichtstendenz]] annehmen: Änderungen (vom Ruhezustand zu einem Geschehen bzw. eine Veränderung eines stationären Gleichgewichts) sind darauf zurückzuführen, | ||
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+ | Lewins Theorie der Spannungssysteme schärft den Blick besonders auch für die positive, konstruktive Seite von Spannung im Lebensvollzug der Menschen, der in unserer Zeit häufig vom allgegenwärtigen und undifferenzierten Ruf nach Entspannung verstellt zu werden droht. Lebendige Systeme brauchen Spannung, um überhaupt existieren zu | ||
+ | können, ohne Spannung leben sie nicht mehr, sondern sind sie tot. | ||
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+ | Nach Lewin handelt es sich bei der Psyche um ein dynamisches Gefüge gespannter Teilsysteme – „Sie bilden Energiereservoire des Handelns und ohne ihre relativ weitgehende Sonderung gegeneinander wäre ein geordnetes Handeln unmöglich“ (Lewin 1926a, 325). Psychotherapeutisch besteht die Aufgabe in vielen Fällen also nicht nur | ||
+ | darin, über die Erledigung unabgeschlossener Vorhaben Entspannung und Freisetzung von Energie für Neues zu unterstützen, | ||
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+ | **Literatur: | ||
+ | * Karsten, Anitra (1928): Über das Phänomen der Sättigung. // | ||
+ | * Lewin, Kurt (1963/ | ||
+ | * Lewin, Kurt (1926a): Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und die Struktur der Seele. // | ||
+ | * Lewin, Kurt (1926b): Vorsatz, Wille und Bedürfnis. // | ||
+ | * Lindorfer, B., Stemberger, G. (2012): [[https:// | ||
+ | * Lissner, Käthe (1933): Die Entspannung von Bedürfnissen durch Ersatzhandlungen. // | ||
+ | * Mahler, Wera (1933): Ersatzhandlungen verschiedenen Realitätsgrades. // | ||
+ | * Ovsiankina, Maria (1928): Die Wiederaufnahme unterbrochender Handlungen. // | ||
+ | * Soff, Marianne (2016): [[https:// | ||
+ | * Zeigarnik, Bluma (1927): Über das Behalten erledigter und unerledigter Aufgaben. // | ||
+ | **Siehe auch:** | ||
+ | |||
+ | Lindorfer, Bernadette & Gerhard Stemberger (2012): [[https:// | ||
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+ | <WRAP center round box 80%> | ||
+ | {{: | ||
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+ | **Kurt Lewin: | ||
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+ | Feldtheorie in den Sozialwissenschaften | ||
+ | Ausgewählte theoretische Schriften** | ||
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+ | 2., unveränd. Aufl. 2012 | ||
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+ | 395 Seiten | ISBN 9783456850764| Preis 34,95 Euro | ||
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+ | -> [[https:// | ||
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- | //Eintrag in Bearbeitung// |