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spannungssystem

Spannungssystem

(tension system; Kurt Lewin) Bernadette Lindorfer, Wien

Kurt Lewins Theorie der Spannungssysteme entstand in den 1920er-Jahren. Sie befasst sich mit der Struktur und Dynamik des Seelenlebens und versucht Antwort zu geben auf die Frage, „was uns bewegt“ bzw. wie unser Handeln eigentlich zustande kommt. Kurz gesagt, ist sie für die Gestalttheoretische Psychotherapie das, was die Triebtheorie im Denken Sigmund Freuds war.

Die grundlegenden Ideen zu seiner Theorie der Spannungssysteme formulierte Lewin 1926 in den beiden in der Zeitschrift „Psychologische Forschung“ veröffentlichten Schriften „Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele“ sowie „Vorsatz, Wille und Bedürfnis“. In dem damit eingeleiteten Forschungsprogramm handlungs- und affektpsychologischer Experimentaluntersuchungen seiner SchülerInnen und MitarbeiterInnen am Berliner Psychologischen Institut wurde die Theorie wissenschaftlich-empirisch überprüft und ausgebaut.

Bedürfnisse und Quasi-Bedürfnisse

Kern der Theorie ist es, dass Bedürfnisse (z.B. Hunger, Durst, Sexualität, Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Bindung, Selbstwirksamkeit, …) genauso wie Intentionen, Vornahmen und Wünsche (von Lewin Quasi-Bedürfnisse genannt) Spannungssysteme begründen, die auf Ausgleich in einem neuen Gleichgewicht drängen. Solche Spannungssysteme bewirken, dass die Person entsprechend der jeweiligen Kräftekonstellation im Feld zu Handlungen angestoßen wird, die in Richtung Bedürfnisbefriedigung bzw. Zielerreichung führen.

Mit Lewins Worten: „Der innere Spannungszustand kommt zum Durchbruch, sobald die Möglichkeit zur Beseitigung oder wenigstens Milderung der Spannung gegeben erscheint, sobald also eine Situation vorhanden ist, bei der man die Möglichkeit von Handlungen in der Richtung auf das Ziel hin spürt.“ (Lewin 1926 b, 349)

Die Ergebnisse der berühmt gewordenen Studien von Bluma Zeigarnik (1927) und Maria Ovsiankina (1928) können als Belege für die Richtigkeit dieser Annahmen angeführt werden. Sie zeigen, dass unerledigte – d.h. nicht zu Ende geführte – Handlungen weit häufiger (nahezu doppelt so gut) behalten und in weit höherem Maße (in rund 80% der Fälle) wiederaufgenommen werden als erledigte. Als alltagsnahes Beispiel für diesen Sachverhalt wird in diesem Zusammenhang gerne der Kellner herangezogen, der bei der Erstellung der Rechnung ohne Schwierigkeiten die einzelnen Konsumationen der Gäste präsent hat, sich aber ein paar Minuten später, wenn er gebeten wird, die Rechnung noch einmal auszustellen, nicht mehr daran erinnern kann, weil die Sache für ihn mit der Begleichung der Rechnung bereits abgeschlossen war. Die zahlreichen Nachfolgestudien zu Zeigarnik und Ovsiankina haben diese Effekte bestätigt, mit der Präzisierung, dass sie vor allem dann eintreten, wenn die unerledigten Vorhaben oder Handlungen ich-nahe sind, für das Selbstwerterleben der betreffenden Person also relevant sind.

Spannung ist bei Lewin folglich ein Zustand, in dem die Person zum Handeln auf ein bestimmtes Ziel hin bereit oder vorbereitet ist. Er bezieht sich auf den Zustand eines innerpersonalen Systems im Verhältnis zum Zustand der umgebenden Systeme (Lewin 1963/2012, 56). Der Begriff „Spannungssystem“ bzw. bei Lewin „System in Spannung“ muss dabei als theoretischer, konditional-genetischer Terminus aufgefasst werden und darf nicht als Erlebnisbegriff missverstanden werden. D.h. die Handlungsbereitschaft oder Strebung, die aus einem unerfüllten Bedürfnis bzw. aus einem System in Spannung resultiert, kann, muss aber nicht bewusst erlebt werden.

Psychische Sättigung und Ersatzbefriedigung

Neben der Tendenz zur Wiederaufnahme von unabgeschlossenen Handlungen und deren besseres Behalten im Gedächtnis unterstützen auch die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen zum Phänomen der Sättigung (Karsten 1928) sowie zur Ersatzbefriedigung durch Ersatzhandlungen (Lissner 1933, Mahler 1933) Lewins Theorie. Sättigung tritt demnach nicht nur bei biologischen (physiologischen) Bedürfnissen auf, sondern genauso im Bereich geistiger und sozialer Bedürfnisse sowie bei Quasi-Bedürfnissen. Sie ist der Entladung des jeweiligen Spannungssystems gleichzusetzen. Wird eine Tätigkeit über die Sättigung hinaus fortgeführt, kommt es zunächst zu einem Gestaltzerfall und schließlich zu einem ausgeprägten Widerwillen oder Ekel der Tätigkeit gegenüber, ein neuerliches Bedürfnis danach – und damit das neuerliche Entstehen eines gespannten Systems – wird für längere Zeit unwahrscheinlich (Karsten 1928). Soff (2016) hat die Erkenntnisse aus Anitra Karstens Arbeit in jüngerer Zeit auf das Problem des Burnout angewendet.

Da gespannte Systeme auf Ausgleich drängen, kommt es bei Vorliegen von Hindernissen auf das ursprüngliche Ziel hin unter bestimmten Bedingungen zu Ersatzhandlungen (Ovsiankina 1928). Wesentlich ist dabei nicht die äußere Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Handlung, sondern deren Verwandtschaft zum inneren Handlungsziel der Person (Lissner 1933). Der Ersatzwert einer Ersatzhandlung und damit auch deren Eignung, das System in Spannung zur Entladung zu bringen, steigt mit deren Schwierigkeits- und Realitätsgrad; etwas, das auch in Hinblick auf sinnvolle psychotherapeutische Vorgehensweisen von Bedeutung ist (vgl. Lindorfer, Stemberger 2012). Konkretes Verhalten, ob eine Vornahme ausgeführt wird oder nicht, hängt also weniger von der Intensität des Vorsatzes (von der „Stärke des Vornahmeaktes“), denn vom Ausmaß der damit verbundenen seelischen Spannung ab.

Eigene und induzierte Bedürfnisse

Hinsichtlich Art und Anzahl möglicher menschlicher Bedürfnisse ist Kurt Lewins Theorie offen. Die Bedürfnisse der Person sind in seiner Theorie nicht vorab festgelegt. Sie entstehen und wandeln sich das ganze Leben über. Eine besondere Rolle kommt dabei nach Lewin (1963/2012, 322) aber sozialen Beziehungen und Faktoren zu. Er verweist auf drei Möglichkeiten, wie Bedürfnisse aus sozialen Beziehungen resultieren können:

  1. aus einer altruistischen Motivation (eine bestimmte Handlung wird zum Nutzen einer anderen Person ausgeführt),
  2. können Bedürfnisse durch das Machtfeld einer anderen Person oder Gruppe induziert werden (z.B. will ein Elternteil, dass das Kind seine Hausaufgaben macht; der Partner will, dass ich einen bestimmten Kleidungsstil pflege,… ) oder entstehen
  3. durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und den damit einhergehenden Wunsch, ihre Ziele zu teilen und zu befolgen.

Alle drei sind eng miteinander verwoben.

Induzierte Bedürfnisse können im Konflikt mit den Bedürfnissen der Person stehen und in diesem Fall zu einem andauernden, relativ verborgenen Konfliktzustand in der Person beitragen. Sie können von der Person aber auch allmählich übernommen werden und damit ihre Eigenart nach und nach in Richtung eigenes Bedürfnis verändern (Lewin 1963/2012, 324).

Ging es bisher vorwiegend um die dynamischen Aspekte einzelner Spannungssysteme, so stellt sich nun die Frage, wie man sich nach Lewin deren dynamisches Zusammenspiel vorstellen muss. In der Gestalttheorie können wir schwerlich davon ausgehen, dass solche Bedürfnissysteme völlig isoliert nebeneinander bestehen und jeweils nacheinander in Spannung geraten. Die einzelnen seelischen Spannungen und Energien gehören demnach Systemen an, die in sich dynamische Einheiten darstellen und eine höhere oder geringere Abgeschlossenheit zeigen („Systeme relativ weitgehender funktioneller Festigkeit und Abgeschlossenheit“). Insbesondere die auf Vornahmen zurückgehenden Quasi-Bedürfnisse stellen keine isolierten seelischen Gebilde dar, sondern sind zumeist eingebettet in umfassendere seelische Komplexe und stehen in Kommunikation mit anderen Quasi-Bedürfnissen und Bedürfnissen.

Nicht statisches, sondern Fließgleichgewicht

Für den Bereich des Psychischen (wie für viele andere Systeme auch) können wir nach Lewin eine Gleichgewichtstendenz annehmen: Änderungen (vom Ruhezustand zu einem Geschehen bzw. eine Veränderung eines stationären Gleichgewichts) sind darauf zurückzuführen, dass das Gleichgewicht an gewissen Punkten gestört ist und nun Prozesse einsetzen, die in Richtung eines neuen Gleichgewichts drängen. Diese Gleichgewichtstendenz gilt dabei nur für ein System als Ganzes, Teilvorgänge können in entgegengesetzter Richtung verlaufen. Gleichgewicht meint in der Theorie der Spannungssysteme dabei keinen homöostatischen Zustand, sondern ein Fließgleichgewicht, bei dem sich widerstreitende Kräfte auf einem bestimmten Niveau von Druck und Gegendruck die Waage halten.

Lewins Theorie der Spannungssysteme schärft den Blick besonders auch für die positive, konstruktive Seite von Spannung im Lebensvollzug der Menschen, der in unserer Zeit häufig vom allgegenwärtigen und undifferenzierten Ruf nach Entspannung verstellt zu werden droht. Lebendige Systeme brauchen Spannung, um überhaupt existieren zu können, ohne Spannung leben sie nicht mehr, sondern sind sie tot.

Nach Lewin handelt es sich bei der Psyche um ein dynamisches Gefüge gespannter Teilsysteme – „Sie bilden Energiereservoire des Handelns und ohne ihre relativ weitgehende Sonderung gegeneinander wäre ein geordnetes Handeln unmöglich“ (Lewin 1926a, 325). Psychotherapeutisch besteht die Aufgabe in vielen Fällen also nicht nur darin, über die Erledigung unabgeschlossener Vorhaben Entspannung und Freisetzung von Energie für Neues zu unterstützen, sondern vor allem auch zur Herstellung einer tragfähigen Zielspannung im Leben der KlientInnen beizutragen, indem diese bei der Entwicklung sinnvoller Ziele und Aufgaben für ihr Leben ermutigt werden.

Literatur:

  • Karsten, Anitra (1928): Über das Phänomen der Sättigung. Psychologische Forschung, 10(2-4), 142-254.
  • Lewin, Kurt (1963/2012): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern: Huber. 2., unveränd. Aufl. 2012 bei Hogrefe.
  • Lewin, Kurt (1926a): Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und die Struktur der Seele. Psychologische Forschung, 7(4), 294-329.
  • Lewin, Kurt (1926b): Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Psychologische Forschung, 7(4), 330-385.
  • Lindorfer, B., Stemberger, G. (2012): Unfinished Business. Die Experimente der Lewin-Gruppe zu Struktur und Dynamik von Persönlichkeit und psychologischer Umwelt. Phänomenal – Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie 4(1-2), 63-70.
  • Lissner, Käthe (1933): Die Entspannung von Bedürfnissen durch Ersatzhandlungen. Psychologische Forschung, 18(3-4), 218-250.
  • Mahler, Wera (1933): Ersatzhandlungen verschiedenen Realitätsgrades. Psychologische Forschung, 18(1/2), 27-89.
  • Ovsiankina, Maria (1928): Die Wiederaufnahme unterbrochender Handlungen. Psychologische Forschung, 11(3/4), 302-379.
  • Soff, Marianne (2016): Ein feldtheoretisches Burnout-Modell. Phänomenal – Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie, 8(1), 3-17.
  • Zeigarnik, Bluma (1927): Über das Behalten erledigter und unerledigter Aufgaben. Psychologische Forschung, 9(1), 1-85.

Siehe auch:

Lindorfer, Bernadette & Gerhard Stemberger (2012): Unfinished Business. Die Experimente der Lewin-Gruppe zu Struktur und Dynamik von Persönlichkeit und psychologischer Umwelt. Phänomenal 4(1-2), 63-70.


Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften Ausgewählte theoretische Schriften

2., unveränd. Aufl. 2012

395 Seiten | ISBN 9783456850764| Preis 34,95 Euro

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spannungssystem.txt · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:26 (Externe Bearbeitung)