[EN: power field]
Gerhard Stemberger, Wien und Berlin
Das theoretische Konzept der Machtfelder geht auf Kurt Lewin zurück. Jede Art der Kraftfeldanalyse macht in der Regel auch eine Machtfeldanalyse erforderlich.
Macht ist im Verständnis Lewins die Möglichkeit einer Person, in einer anderen Person Kräfte von bestimmter Größe bzw. einen Zustandswechsel zu induzieren (vgl. Lewin 1944 in 1951). Macht ist nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Einflussnahme von B auf A, sondern die von A wahrgenommene oder angenommene Möglichkeit oder Fähigkeit von B zu einer solchen Einflussnahme. „Diese Betonung von Macht als Potentialität ist eine sehr wichtige und eindeutige konzeptionelle Klarstellung, die von vielen Sozialpsychologen übersehen oder missverstanden wurde, die (soziale) Macht mit (sozialem) Einfluss gleichsetzten oder soziale Macht für eine spezielle Klasse von Einfluss halten (…). Was diese Autoren übersehen, ist eine der grundlegenden psychologischen und sozialen Eigenheiten von Macht, dass sie nämlich nicht ausgeübt werden muss, aber ausgeübt werden kann…“ (Graumann 1986, 87; Übers. GSt).
Die Lewinsche Konzeption von Macht und Machtfeldern bezieht sich also vorrangig auf Einflussmöglichkeiten, nicht auf tatsächliche Einflussnahmen. Dementsprechend geht es auch in der Machtfeldanalyse nicht so sehr um die Feststellung tatsächlicher Handlungen und Verhaltensweisen, mit denen B Einfluss auf A ausübt, sondern darum, wie A in seinem Lebensraum die Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten von B erlebt und einschätzt, also um die Untersuchung seiner diesbezüglichen Hoffnungen und Befürchtungen - sowie der verhaltenswirksamen Einschätzungen seiner eigenen Macht. Erst in diesem Kontext lassen sich die tatsächlichen Versuche der Beeinflussung von A durch B und des Umgangs von A damit angemessen untersuchen.
Für Kurt Lewin ist Macht nicht an einen Kontext des Bezwingens eines Schwächeren durch einen Stärkeren gebunden. Lewin versteht unter Macht vielmehr in einem viel weiteren Sinn die „Möglichkeit, in einer anderen Person Kräfte von bestimmter Größe zu induzieren“ (Lewin 1944 in 1951, 404) bzw. allgemeiner: „einen Zustandswechsel zu induzieren“ (Lewin 1941 in 1982, 360): Damit sind in Lewins Machtverständnis auch Fälle mit eingeschlossen, in denen beide Seiten gleich stark sind, oder sogar solche, wo ein Schwächerer Kräfte in einem Stärkeren induziert. Weiters sind Fälle mit eingeschlossen, in denen nicht etwas aufgezwungen wird, sondern höchst Erwünschtes geschieht, zum Beispiel einer Person Sicherheit gegeben und damit ihr Bewegungsspielraum vergrößert wird. Und vor allem sind Fälle mit eingeschlossen, in denen nicht einem Schwächeren etwas aufgezwungen wird, sondern z.B. Menschen ihre jeweilige Macht wechselseitig durch Kooperation verstärken.
Der Ausgangspunkt des Konzepts der Machtfelder kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
Der Mensch erlebt sich in der Regel in einer Welt von treibenden und hemmenden Kräften. Er fühlt sich von bestimmten Dingen, Menschen, Handlungsmöglichkeiten angezogen, von anderen ferngehalten. Das veranlasst ihn, das eine zu tun und das andere zu lassen. Die dabei wirksamen Kräfte können eigenen Bedürfnissen und Vorhaben des betreffenden Menschen entsprechen; sie können stattdessen aber auch von Menschen oder Sachverhalten außerhalb der eigenen Person angeregt worden sein. „Derartige Kräfte im Lebensraum […] werden induzierte Kräfte genannt und die dazugehörigen positiven und negativen Valenzen ‚induzierte Valenzen‘“ (Lewin 1946/1982, 400).
Beispielsweise erhalten im Lebensraum eines Kindes viele Dinge und Verhaltensweisen für das Kind einen positiven oder negativen Aufforderungscharakter oder die Eigenschaft einer Barriere nicht unmittelbar durch die Bedürfnisse des Kindes selbst, sondern durch ein induzierendes Machtfeld eines Erwachsenen oder auch eines anderen Kindes oder einer Gruppe.
Induzierte Kräfte können dem tatsächlichen oder vermeintlichen persönlichen Willen, dem Wunsch oder der Erwartung eines anderen Menschen entsprechen, also erlebnismäßig von einer bestimmten anderen Person ausgehen (sie hat mir z.B. etwas befohlen oder verboten). Sie können aber auch den Charakter des „Unpersönlichen“ oder Nicht-Persönlichen haben, also als sachliche Forderung erlebt werden. Es macht im Erleben und Verhalten psychologisch einen sehr großen Unterschied, ob jemand den Ursprung induzierter Kräfte in einer anderen Person verortet oder im Nicht-Persönlichen etwa einer sachlichen oder situativen Gegebenheit. Zu den als unpersönlich erscheinenden induzierten Kräften können auch die gezählt werden, die auf bestimmte Wertvorstellungen zurückzuführen sind.
Nicht ausdrücklich in den Lewinschen Untersuchungen angesprochen, mit der Grundidee aber vollkommen kompatibel ist es, bei den induzierten Kräften sowohl die persönlich als auch die unpersönlich induzierten Kräfte noch etwas zu erweitern:
So wird im Erleben oft nicht nur Menschen und Menschengruppen eine Art Persönlichkeit zugesprochen, die etwas will und erwartet, sondern auch anderen Lebewesen wie etwa Tieren und nicht-materiellen Wesenheiten wie etwa Göttern, „Mutter Natur“ und dergleichen – auch in diesen Fällen haben wir es in der psychologischen Wirkung mit persönlich induzierten Kräften zu tun. Auf Seiten der nicht-persönlich induzierten Kräfte wiederum sind auch Objekte und Ereignisse in der Umwelt der Person mit einzubeziehen, die gleichermaßen in der Lage sind, in der Person Kräfte zu induzieren (z.B. Amulette und ähnliche Artefakte, Rituale, ein berührendes Musikstück oder Naturereignis, auch ganz allgemein die „physiognomischen Charaktere“, von denen Kurt Koffka spricht).
Daneben gibt es weitere psychologisch relevante Differenzierungen von induzierenden Kräften. Eine Systematik dieser Differenzierungen verhaltensbestimmender Kräfte findet sich bei Stemberger 2016.
Mit dem Konstrukt Machtfeld wird dem Lewinschen Machtbegriff entsprechend ein psychologisches Feld mit bestimmter Reichweite und Stärke bezeichnet, in dem jemand (oder etwas) die Möglichkeit hat, Kräfte oder einen Zustandswechsel in anderen Menschen (oder in anderen Wesen) zu induzieren.
Als Beispiel für die Induktion „fremder Kräfte“ kann man anführen: Ein Kind möchte gerne die verlockend glitzernde Kristallvase in die Hand nehmen, diese erhält aber über die induzierende Wirkung des Machtfeldes seiner Eltern, die ihm das verboten haben, die abschreckende Färbung des Gefährlichen.
Ein Zustandswechsel wiederum beschränkt sich nicht auf die Kräfte im Lebensraum, sondern bezieht sich auch auf dessen Strukturen und Gesamtcharakter. Ein solcher Zustandswechsel könnte beispielsweise darin bestehen, dass jemand in Gegenwart einer als einschüchternd erlebten Autoritätsperson beklommen und undifferenziert wird, in Gegenwart einer als mutig und ermutigend erlebten Person aber freier, entspannter und differenzierter. Es gibt also Konstellationen, wo bei einem Menschen, der sich im Bereich des Machtfeldes einer anderen Person oder einer Gruppe befindet, zwar eine Zustandsveränderung induziert wird, nicht aber zwingend eine Induktion von „fremden Kräften“ - vielmehr stattdessen eine Freilegung und Verstärkung eigener Kräfte (vgl. dazu die Untersuchungen von Arsenian 1943 zum Verhalten von Kindern in unsicheren und sicheren Situationen).
Lewin hat das Konstrukt des Machtfeldes nicht nur für den interpersonellen Bereich konzipiert, also für das Wirken von Machtfeldern in der Beziehung der Person zu anderen Personen und Gruppen (sowie im weiteren Sinn auch zur Beziehung zu Objekten und Ereignissen in der Umwelt der Person), sondern auch für den intrapersonalen Bereich, also für das Wirken von Machtfeldern in der Beziehung zwischen verschiedenen „inneren“ Bereichen der Person (siehe unten, „intrapersonelle Machtfelder“).
Machtfelder lassen sich nach ihrer räumlichen Ausdehnung, nach den Lagebeziehungen zwischen ihnen und nach ihrer Intensität beschreiben, aber auch nach ihrem Charakter (etwa „freundlich“ oder „feindselig“).
In dynamischer Hinsicht ist zu unterscheiden zwischen zwei Grundkonstellationen: Einer Konstellation, wo es im Bereich des Machtfeldes bei der Möglichkeitsform einer Induktion fremder Kräfte bleibt, solche Kräfte in der anderen Person also (noch) nicht durch entsprechende konkrete Handlungen und Verhaltensweisen induziert wurden; und einer Konstellation, wo aus der Möglichkeit bereits eine Tatsache geworden ist, solche Kräfte in der anderen Person also tatsächlich durch entsprechende konkrete Handlungen und Verhaltensweisen induziert wurden. In der Praxis sind viele Übergänge zwischen diesen beiden Konstellationen möglich, da z.B. auch der unausgesprochene Befehl zur psychologischen Realität für die Beteiligten geworden sein kann.
Jedenfalls kann man nicht davon ausgehen, dass die Wirkungen bestehender Machtfelder erst dann eintreten, wenn tatsächlich Kräfte durch entsprechende konkrete Handlungen und Verhaltensweisen induziert werden. Vielmehr hat auch schon das „Möglichkeitsstadium“ seine Wirkungen, nicht erst die tatsächliche explizite Einflussnahme.
Lewin verstand Macht und Machtfelder nicht nur als dynamische Konzepte für das Verständnis bestimmter wechselseitiger Einwirkungen von Personen und Personengruppen, er sah sie als relevant auch für das Verständnis der dynamischen Beziehungen im „Innenbereich“ der Person, also zwischen innerpersonalen Regionen.
„Es scheint wichtige Individualunterschiede im Grad der strukturellen Einheitlichkeit der Person zu geben. Bei einigen Individuen sind anscheinend ein oder einige Bedürfnisse mächtig genug, um die anderen Bedürfnisse zu unterdrücken. In diesem Fall kann man auf ein verhältnismäßig hohes allgemeines Spannungsniveau schließen. Eine ziemlich andere Art von Einheitlichkeit der Person ergibt sich, wenn eine Anzahl Häupter von ungefähr gleicher Macht auf eher ‚demokratische‘ Weise organisiert sind. Hier wird die Spitze einer hierarchischen Struktur von einer Gruppe von Häuptern gebildet, die in einem die Politik bestimmenden Teil (H) des Ganzen zusammengeschlossen sind. Betrachtet man dieses H als Region, so ist der Einheitlichkeitsgrad des Ganzen hoch, obwohl es innerhalb des Ganzen keine allmächtige Einzelzelle gibt. Harmonische und leicht bewegliche Personen haben vielleicht eine innere Struktur von dieser Art.“ (Lewin 1941 in Lewin 1982, 362f; Übers. korrigiert, Hervorhebung GSt).
Ausführlicher zu diesem Thema:
Zitierte Literatur:
Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften Ausgewählte theoretische Schriften
2., unveränd. Aufl. 2012
395 Seiten | ISBN 9783456850764| Preis 34,95 Euro