[EN: physiognomic character]
Gerhard Stemberger, Wien und Berlin
In Anlehnung an Kurt Lewins Begriff der Aufforderungscharaktere, aber davon wie folgt abgegrenzt, führte Kurt Koffka 1935 den Begriff der physiognomischen Charaktere in die Gestalttheorie ein:
„Im psychologischen Feld können Objekte Eigenschaften aufweisen, die sich weder in Begriffen ihrer Form, noch ihrer Farbe, noch ihrer praktischen Funktion fassen lassen und die doch einen mächtigen Einfluss auf unser Verhalten ausüben können. Diese Charaktere sind für uns am stärksten in der menschlichen Form ausgeprägt, sie können aber praktisch jedem Objekt angehören.“ (Koffka 1935, 359; dt. Übers. GSt)
Der Ausdruck „physiognomisch“ nimmt auf das Gesicht Bezug, in dessen äußerer Erscheinung das innere Wesen des Menschen zum Ausdruck kommen kann. Koffka weist darauf hin, dass in der Erlebniswelt des Menschen praktisch alles mehr oder weniger ausgeprägt ein „Gesicht“ haben kann, auf das der Mensch unmittelbar reagiert. Solche physiognomischen Charaktere sind etwa „das Grauenhafte“, „das Majestätische“, „das Bezaubernde“, „das Bedrohliche“.
In der phänomenalen Welt von Kindern, aber auch von so genannten Naturvölkern, scheinen diese physiognomischen Charaktere generell eine größere Rolle zu spielen als in der des Erwachsenen und in den mehr von Wissenschaft und Technik geprägten Kulturen. Das ist aber nicht dem Lebensalter oder dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand als solchen geschuldet, sondern ergibt sich aus einer bei Kindern und so genannten Naturvölkern geringeren Ausgliederung und Abgrenzung der erlebten Person gegenüber ihrer erlebten Umwelt. Deshalb ist auch bei Erwachsenen unserer Gesellschaften immer dann mit einer stärkeren Ausprägung der physiognomischen Charaktere in der Erlebniswelt zu rechnen, wenn es situativ zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Person-/Umweltgrenzen kommt. Dieses Phänomen ist sowohl im alltagspsychologischen Bereich zu beobachten (dem Verliebten „hängt der Himmel voller Geigen“) als auch im psychopathologischen Bereich (vgl. z.B. Levy 1943/2002).
Die Aufforderungscharaktere im Sinne Lewins und die physiognomischen Charaktere unterscheiden sich nach Koffka folgendermaßen:
Bestimmte Objekte in der Erlebniswelt eines Menschen nehmen Aufforderungscharakter an, wenn in der Person durch ein Bedürfnis oder eine Vornahme ein Spannungszustand entstanden ist und diese Objekte geeignet erscheinen, dieses Bedürfnis zu stillen bzw. die Vornahme verwirklichen zu können (Beispiel: Ein Mensch hat einen Brief geschrieben und möchte ihn absenden; Briefkästen nehmen daraufhin für ihn so lange Aufforderungscharakter an, bis der Brief aufgegeben ist.) Diese Aufforderungscharaktere haben ihr Entstehen und Vergehen also den Spannungszuständen innerhalb des Personbereichs des Feldes verdanken.
Die physiognomischen Charaktere hingegen sind durch einen Spannungszustand zwischen der Person und den entsprechenden Objekten in ihrer Umwelt bestimmt. Die physiognomischen Charaktere vermögen das Verhalten der Person unmittelbar zu bestimmen (z.B. Zurückschrecken vor einer grauenvollen Figur oder Szene), ohne dass dem die Herausbildung eines Bedürfnisses oder einer Vornahme der Person vorausgegangen wäre.
Rudolf Arnheim spricht vom Vorrang der physiognomischen Eigenschaften in der Wahrnehmung vor dem Registrieren von Formen, Entfernungen, Farbtönen und Bewegungen. Beispielsweise werde „vom Gesicht eines Menschen eher wahrgenommen und in Erinnerung behalten, dass es wach, angespannt und konzentriert aussieht, als dass es eine dreieckige Form hat, schräge Augenbrauen, gerade Lippen usw.“ Er betont die Bedeutung dieses Vorranges der Ausdrucksqualitäten in ihrer Funktion für Lebenserhalt und Lebensvollzug des Menschen: „Der Organismus interessiert sich hauptsächlich für die Kräfte, die um ihn her aktiv sind – für ihren Ort, ihre Stärke, ihre Richtung. Feindlichkeit und Freundlichkeit sind Attribute dieser Kräfte.“ (Arnheim 1978, 459)
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Literatur: