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Gestalteigenschaften: Arten (nach W. Metzger)

[EN: Gestalt qualities, types of]

Gerhard Stemberger, Wien und Berlin

Alle Gestalten weisen bestimmte Eigenschaften auf, die jedoch nicht alle von der gleichen Art sind. Wolfgang Metzger hat 1940 vorgeschlagen, drei Arten von Gestalteigenschaften zu unterscheiden, denen er dann noch eine vierte hinzufügte:

1) die Struktur- oder Gefügeeigenschaften,

2) die ganzbedingten Beschaffenheiten (darunter die Materialeigenschaften) und

3) die Wesenseigenschaften (darunter die physiognomischen Eigenschaften).

Diese Begriffe haben folgende Bedeutung:

1. Die Struktur- oder Gefügeeigenschaften:

Damit meint man alle Eigenschaften der Anordnung oder des Aufbaues; die Form des Raumes oder der darin enthaltenen Figuren (z.B. gerade, rund, eckig, geschlossen, symmetrisch, spitz, wellig), das Helligkeits- und Farbprofil einschließlich der Gliederung und Gewichtsverteilung; den Rhythmus, die Melodie (legato, staccato, glissando, crescendo); bei Bewegungen und Veränderungen deren Verlaufsstruktur (das Wachsen, Schrumpfen, Steigen, Fallen, Strömen, Springen, kurz jede Art von „Übergang“). Zu den Strukturen gehören auch die dynamischen Strukturen: die Gerichtetheit, die Verteilung, das „Gefüge“ von Spannung, Anziehung, Abstoßung, Druck, Drang, Antrieb, einschließlich ihrer Änderungen im Laufe der Zeit: ihres Entstehens, ihrer Wandlungen und ihres Vergehens.

2. Die ganzbedingten oder "Materialeigenschaften"

Mit den ganzbedingten Beschaffenheiten sind alle stofflichen Eigenschaften, also Qualitäten des „Materials“ der Gestalt gemeint, weshalb man auch von Materialeigenschaften spricht (z.B. durchsichtig, leuchtend, rauh, glatt, glänzend, seidig, dinghaft, scheinhaft; weich, hart, zäh, federnd; schrill, hohl).

3. Die Wesenseigenschaften

unter die nicht nur das „Wesen“ von Lebendigem fällt, sondern im weiteren Sinn das „Wesen“ von allem, was antreffbar ist. Darunter fallen auch alle so genannten „physiognomischen“ (gesichtshaften) oder Ausdruckseigenschaften wie z.B. Charakter, Ethos, Habitus, Stimmung, „Gefühlswert“ usw. Beispiele für Wesenseigenschaften sind: feierlich, freundlich, stolz, finster, friedlich, wuchtig, zierlich; männlich, weiblich, kindlich; polternd, krachend, klirrend, heulend usw. Diese Wesenseigenschaften werden in der englischsprachigen Literatur noch häufig als „tertiäre Qualitäten“ bezeichnet.

In der Begegnung mit einem anderen Menschen kann ich seine Haltung, seine Mimik und Gestik wahrnehmen – das wären die Gefügeeigenschaften. Wenn ich auch (ob nun zutreffend oder nicht) seinen Gemütszustand wahrnehme, dann sind das Wesenseigenschaften, die diesen Gefügeeigenschaften zugeordnet sind.

Nach Metzger kann man diese drei Arten von Gestalt-Eigenschaften zwar begrifflich klar voneinander unterscheiden, es ist im konkreten Fall aber nicht immer leicht, diese Zuordnungen trennscharf zu vollziehen. Das hat nicht zuletzt mit der wechselseitigen Bedingtheit dieser Eigenschaften zu tun: Damit eine bestimmte Ganzbeschaffenheit unmittelbar anschaulich angetroffen werden kann und nicht bloß vorstellungsmäßig gegeben ist, müssen bestimmte Gefügeeigenschaften verwirklicht sein.

Ebenso gibt es für jedes Wesen, sofern es überhaupt seinen Ausdruck in bestimmten Gefügen findet, ein ganz bestimmtes Gefüge, in dem es sich am reinsten und zwingendsten verwirklicht. Das ist es, was man dann als „ausgezeichnet“ oder „prägnant“ bezeichnet.

Diese drei Arten der Gestalteigenschaften stehen also in enger Wechselbeziehung. Sie sind auch nicht in jeder Hinsicht gleichrangig, was auch psychotherapeutisch Beachtung verdient: Die Wesenseigenschaften stehen zeitlich im Wahrnehmungsgeschehen meist am Anfang und auch sachlich, sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Wirkung auf unser Verhalten stehen sie an der Spitze. Es spricht also viel dafür, in der Erforschung der Situation eines Menschen in der Psychotherapie das Augenmerk vorrangig nicht auf Fragen nach den Strukturen und den materiellen Eigenheiten seiner Lage, sondern auf Fragen nach seiner Wahrnehmung des Wesens seiner Lage zu richten. Darauf gründet auch das besondere Interesse an den Gefühlen und den gefühlsartigen Wahrnehmungen des Betroffenen angesichts seiner aktuellen Situation oder in seiner Beziehung zu bestimmten Menschen oder Aufgaben, da sich in den Gefühlen die Wesenseigenschaften der erlebten Situation im prägnanten Fall besonders deutlich ausdrücken.

Metzger fügt diesen drei Arten von Gestalteigenschaften noch eine vierte hinzu, die sich von den drei erstgenannten insofern unterscheidet, als sie die WIRKUNG des Wahrnehmungsgegenstandes auf den Wahrnehmenden betreffen:

4. Die Anmutungsweisen

Hier handelt es sich um Eigenschaften wie anziehend, abstoßend, reizend, bedrückend, erregend, beruhigend, beängstigend, appetitlich etc. Sie betreffen also das Verhältnis zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden. 1)

Literatur:

Metzger, Wolfgang (1940/2001): Psychologie – Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments (Ersterscheinung 1940). 6. Auflage Wien: Verlag Wolfgang Krammer. Dort das Unterkapitel „Die drei Arten von Gestalt-Eigenschaften“, 62-65 (die vierte Art, die Anmutungsweisen, auf S. 64f).


Das klassische Grundlagenwerk zur Gestalttheorie

Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments

Wien: Verlag Wolfgang Krammer

ISBN 978 3 901811 07 9 | 407 Seiten | Preis 45,00 Euro

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1)
Kurt Guss schlägt als vierte Gruppe die Richtungsqualtitäten vor: „Hierher gehören die Kategorien Sinn, Wert und die 'Gefordertheiten' Wolfgang Köhlers, die sich als besonders bedeutsamer Spezialfall von dynamischen Gestaltqualitäten auffassen lassen.“ (Kurt Guss (Hrsg.) 1977, Gestalttheorie und Fachdidaktik, S. 8)