Doris Schubert, Frankfurt (mit einigen bibliographischen Aktualisierungen)
Christian von Ehrenfels führte (1890) den Begriff der Gestalt in die Psychologie ein, um die (philosophische) Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu erklären. Er erläutert das Verständnis von Ordnung, die wir am seelischen Geschehen (und zugleich am Verhalten von Menschen und Tieren) bemerken. Eine Gestalt ist eine seelische Ganzheit, die sich durch Übersummativität und Transponierbarkeit hervorhebt. Ehrenfels führt dies am Beispiel der Melodie aus: Sie ist übersummativ, weil sie sich nicht aus der „Summe“ ihrer einzelnen Teile erklären lässt, und transponierbar, weil sie trotz Änderung aller Einzeltöne - etwa beim Wechsel des Tonhöhennivveaus - erhalten bleiben kann (Tendenz zur guten Gestalt/Prägnanztendenz) (vgl. Tholey 1982).
Die Ganzheitlichkeit des Seelischen wird am radikalsten durch die Gestaltpsychologie der "Berliner Schule" (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka sowie Kurt Lewin) vertreten, deren Forschungsaktivitäten in Deutschland in den 1930er-Jahren im Gefolge des MAchtantritts des Nationalsozialismus stark beeinträchtigt wurden und so erzwungenermaßen in der Emigration fortgeführt werden mussten (z.B. von Lewin in den USA mit seinen gruppendynamische Experimenten und seinem feldtheoretischen Ansatz, in dem er gestaltpsychologisches Gedankengut für den Bereich der Sozialpsychologie erfolgreich anwandte). Ebenso ist diese Theorie in Italien und in Japan vertreten (auch aufgrund der Nähe zur zen-buddhistischen Lehre1)). In der BRD wurde die gestaltpsychologische Forschung nach dem 2. Weltkrieg vor allem durch Wolfgang Metzger und Edwin Rausch weitergeführt; ihre Wiederbelebung im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus kam auch in der Gründung der Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen" (GTA) und ihrer Zeitschrift "Gestalt Theory" (ab 1979) zum Ausdruck. Diese Gesellschaft bot unter anderem auch den Rahmen für die Bemühungen von Hans-Jürgen P. Walter, Rainer Kästl und seinen Kolleginnen und Kollegen um die Ausformulierung einer gestalttheoretisch begründeten Psychotherapie, in der verschiedene therapeutische Richtungen der Gegenwart integrieren werden sollten (zur Geschichte dieser Bemühungen siehe Kästl 2002, Stemberger 2019).
Eine Gestalt - im Gegensatz zu einer beliebigen Ansammlung von Stücken, mosaikartigen Gebilden - weist eine gewisse Ordnung auf, welche die Art und den Ort der Teile bestimmt; zudem besteht eine Wechselwirkung zwischen ihren Teilen – so dass eine Änderung eines Teiles zur Änderung anderer führen kann.
Die Gestalttheoretiker der Berliner Schule (Köhler, Koffka, Wertheimer, Lewin) exemplifizierten ihre Theorie an Beispielen aus der Wahrnehmung. Sie erforschten Denkverläufe, Willenshandlungen, Affekte, Bewegungsgestalten (und stellten sich philosophische Fragen), die sich vor einem Hintergrund als mehr oder weniger geschlossene, in sich gegliederte Ganze abheben, deren Glieder unterschiedliche Gewichte haben. Eine „Gestalt“ ist um so stabiler, je stabiler die Beziehungen der Teile zueinander sind. Und umgekehrt: Die Beziehungen zwischen den Teilen sind um so stabiler, je eindrücklicher (prägnanter) die Gestalt des Ganzen ist (Walter 1985, 27).
Seelische Ganze einfachster Art weisen Eigenschaften auf, die weder aus den Eigenschaften ihrer Teile noch aus den einfachen Beziehungen zwischen diesen abgeleitet werden können und die zugleich von höchster Bedeutung sind. Diese Eigenschaften sind es, die schon bei den einfachsten Auffassungs- und Denkvorgängen eine entscheidende Bedeutung haben. Als besonders eindrucksvolle Gruppe dieser sogenannten Gestalteigenschaften wird der Gesichtsausdruck genannt, der aus dem Insgesamt der einzelnen Teile wie Augen, Nase, Mund etc. besteht und dessen entscheidende Züge - z.B. überheblich, herrisch oder weich, teilnehmend - nur sichtbar werden, wenn man ihn als Ganzes betrachtet.
Wie in diesem Beispiel deutlich wird, haben die natürlichen Teile (auch des einfachsten) psychischen Ganzen gewisse Eigenschaften (Rollen, Bedeutungen, Funktionen), die sie überhaupt nur ihrer Stelle und Rolle in dem jeweiligen Ganzen verdanken und außerhalb dieses Ganzen nicht besitzen - wie die Rolle des Leittons innerhalb eines Melodie oder die Funktion des Führers einer sozialen Gruppe; so dass nicht nur Neues hinzu kommt, sondern ebenso im Gestaltzusammenhang auch Teile oder Eigenschaften verloren gehen können, die sie als Einzelgebilde besitzen (Wertheimer 1912). Daher wird Ehrenfels' Gestaltbegriff verändert: nicht die Übersummativität (das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile), sondern die Nichtsummativität ( das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile) ist das Entscheidende.
Dies führt zu einer Erweiterung und Differenzierung des Begriffs der Gestalteigenschaft. Er beinhaltet die Eigenschaften, die einem Ganzen zukommen und diejenigen, welche die Teile aufgrund ihrer Rolle im Ganzen gewinnen (die Gestaltqualitäten, Ganz- und Teileigenschaften).
Besonders hervorzuheben ist die Dynamik von Gestalten. Sie zeichnet sich durch Selbstordnungstendenzen aus, die für ihre Bildung, Aufrechterhaltung, Wiederherstellung und Höherentwicklung verantwortlich sind. Dieses Streben wird unter dem Begriff der Tendenz zur guten Gestalt / Prägnanztendenz als wichtigstes dynamisches Prinzip bezeichnet (s. auch „Gestaltgesetze“). Dadurch wird es möglich, den Gestaltbegriff fruchtbar auf physikalische, biologische, philosophische und psychologische Sachverhalte anzuwenden.
Siehe auch:
Paul Tholey: Gestalttheorie von Sport, Klartraum und Bewusstsein. Ausgewählte Arbeiten, hrsg. und eingeleitet von Gerhard Stemberger
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 76 0 | 310 Seiten | Preis 36,00 Euro