Produktives Denken

Gerhard Stemberger

Der Begriff des Produktiven Denkens ist vor allem mit den Arbeiten der Gestaltpsychologen Max Wertheimer (1964) und Karl Duncker (1935) verbunden. Gemeint ist lebendiges, selbständiges, einsichtiges Denken (W. Metzger), das in unmittelbarer lebendiger Auseinandersetzung mit der Sache zu eigener Einsicht und von ihr geleitetem Handeln führt. Produktives Denken ist einem blinden, starren Regeldenken entgegengesetzt, welches bei richtiger Anwendung der Regeln der Logik und bestimmter Verfahrensvorschriften zwar richtige Lösungen erzwingen, aber keine neuen Erkenntnisse hervorbringen kann. Nach Wertheimer ist demgegenüber produktives Denken weiterführendes Denken, das an seinem Höhepunkt in einem mehr oder weniger plötzlichen Umstrukturierungsvorgang in den Gewinn von Einsicht umschlägt.

Auch für dieses produktive Denken lassen sich bestimmte notwendige Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten bestimmen, die vor allem von Wertheimer und Duncker herausgearbeitet wurden: Produktive Denkprozesse sind durch die verschiedenen Gestaltgesetze, allgemein durch die Tendenz zur guten Gestalt (Prägnanzgesetz) bestimmt. Voraussetzung dafür ist das Entstehen einer seelischen Spannungslage bei der Beschäftigung mit einem Problem, die nach Ausgleich drängt. Denken ist dabei nicht als isolierter Vorgang aufzufassen, sondern in enger Wechselwirkung bzw. unter notwendiger ständiger Beteiligung anderer kognitiver Prozesse des Wahrnehmens, Fühlens und Handelns:

„Es ist eine künstliche und enge Auffassung, die das Denken als eine lediglich intellektuelle Operation ansieht, und es völlig abtrennt von Fragen der menschlichen Haltung, des Fühlens und der Gemütsregungen – ‚weil solche Themen zu anderen Kapiteln der Psychologie gehören‘.“ (Wertheimer 1964, 157)

Aus der Sicht der Gestalttheoretischen Psychotherapie steht auch die Psychotherapie-Klientin im Zuge der Therapie immer wieder vor komplexen Problemlösungs-Aufgaben. Schon das Entdecken und Identifizieren der Problemlage ist dabei eine produktive Leistung, die das klare Herausarbeiten des Therapiezieles oder -teilzieles erst ermöglicht. Hruschka (1969), Walter (1994), Zöller (1993) und zuletzt Lindorfer (2021) haben die Bedeutung der gestalttheoretischen Erkenntnisse über Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten produktiven Denkens für das beraterische und psychotherapeutische Aufgabenfeld herausgearbeitet.

Siehe auch:

Literatur:


Max Wertheimer: Produktives Denken. Hrsg. und eingeleitet von Viktor Sarris (Neuauflage 2019)

Berlin: Springer Spektrum

E-Book ISBN 978-3-662-59821-4 | 300 Seiten | Preis für das E-Book 29,99 Euro Softcover ISBN 978-3-662-59820-7 | 300 Seiten | Preis für das Druckexemplar 39,99 → Bestellmöglichkeit

Von der Einheit der Seele. Warum es lohnend ist, sich als Psychotherapeutin mit gestalttheoretischer Denkpsychologie zu beschäftigen. Rezension zu Max Wertheimer: "Produktives Denken"