Wahrheit

[EN: truth]

Beate Weitkemper, Soest

Max Wertheimers Verständnis von Wahrheit geht weit über die klassische Definition der philosophischen Logik hinaus. Während hier „wahr“ und „falsch“ als Eigenschaften von Urteilen gesehen werden, die sich auf ein Zutreffen bzw. Nicht-Zutreffen eines Urteils im Verhältnis zu einem Sachverhalt beschränken, versteht Wertheimer Wahrheit in einem umfassenderen, ganzheitlichen Sinne. Wahrheit, die diese Bezeichnung verdient, muss jede Aussage bzw. jeden entsprechenden Sachverhalt als Teile von Zusammenhängen berücksichtigen. (Gestaltgesetze)

Urteil und Sachverhalt müssen in ihrer Funktion als Teile eines Ganzen gesehen werden, will man sich nicht mit stückhafter Wahrheit zufrieden geben. Die verschiedenen Gegebenheiten bzw. Teile einer Situation sind selten wirklich isoliert und unabhängig voneinander, sondern jeweils bestimmt durch ihre Funktion innerhalb eines Ganzen. So mag z.B. jemand, der einen anderen zum Diebstahl gezwungen hat, auf die Frage, ob er das Geld aus der Kasse genommen habe, mit „Nein“ antworten. Dieses „Nein“ ist stückhaft gesehen wahr (von Wertheimer als w dargestellt), bezogen auf diesen Teil der Situation nämlich, bezogen auf die Gesamtsituation jedoch ist dieser Mensch schuldig (dargestellt als wF, d.h. stückhaft wahr, aber falsch im großen Zusammenhang).

Andere Beispiele von stückhaft wahr, im Ganzen aber falsch (wF) sind das Bilanzenfrisieren und das Verschieben von Betonungen bei Nachrichten, um absichtlich einen verzerrten Eindruck entstehen zu lassen (man denke z.B. an sog. „Kollateralschäden“ im Kosovo-Krieg).

Andererseits kann etwas auch stückhaft falsch, aber ganzheitlich betrachtet wahr sein (fW). Eine sehr gute Karikatur z.B. kann in jedem Detail falsch sein und dennoch die dargestellte Person wahrheitsgetreuer wiedergeben als eine Photographie, die das Gesicht in jedem Detail zutreffend abbildet. Ähnliches gilt für gute Anekdoten. Unproblematisch sind natürlich Fälle von (wW) bzw. (fF).

Da Sachverhalte selten in Isoliertheit vorkommen, darf sich jemand auf der Suche nach Wahrheit nicht mit stückhaften Wahrheiten zufriedengeben, sondern der innere Zusammenhang des Ganzen muss verstanden werden, um von dort aus die Teilgegebenheiten einordnen zu können (Produktives Denken). Wahrheit und Falschheit sind nach Wertheimer nicht etwas rein Intellektuelles, fern von Gefühlen, Haltungen und Handlungen eines Menschen. Mehr als in Verlautbarungen drückt sich eine Haltung von Wahrhaftigkeit im gesamten Gebaren eines Menschen aus, in seinem Tun, in seinem realen Verhalten zu Menschen und Dingen, in seinem Willen, ihnen gerecht zu werden (Ethik). Eine solche Haltung erwartet Wertheimer besonders auch vom Wissenschaftler: „Wissenschaft wurzelt im Willen zur Wahrheit, damit steht und fällt sie. Sinkt ihr Anspruchsniveau in dieser Hinsicht, so erkrankt die Wissenschaft in ihrem Innersten“ (ebd., S.13). Gleiches gilt auch für die Psychotherapie, die ebenfalls im Willen zur Wahrheit wurzelt. Wissenschaft und Psychotherapie dürfen sich nicht mit stückhaften Wahrheiten zufriedengeben, beide müssen sich vom Willen zur Wahrheit leiten lassen, unabhängig vom sonstigen persönlichen Wünschen und Wollen.

Literatur: