Vom Verständnis der Gestalttheoretischen Psychotherapie her existiert im Menschen, Adlers „Gemeinschaftsgefühl“ entsprechend, die Tendenz, Teil eines sozialen Ganzen zu werden. Das Individuum erlebt die Wir-Tendenz als Vektor im Lebensraum, als Gefordertheit, mit Menschen in Beziehung zu treten (vgl. Zug des Zieles). Wir-intendierende Situationen entstehen aus phänomenal objektiven Gefordertheiten: Der Handlungsanspruch entsteht nicht wegen subjektiver Interessen, sondern aus der Struktur der Situation, eines Arbeitsteams etwa. Als phänomenal subjektive Gefordertheit gilt das Bedürfnis des Menschen nach Gemeinschaft: extrem vorhanden beim Säugling oder das Problem des alten Menschen, dessen psychologisches Feld durch den Tod bekannter Menschen leer wird. Das Erlebnis der Unfähigkeit, an Wir-Situationen teilzunehmen kann zur psychischen Umstrukturierung und Ausbildung eines Wahnsystems führen (Ruh 1995, in Stemberger 2002). Für Lewin ist die soziale Gruppe im Lebensraum haltgebend. Ein sich zugehörig fühlender Mensch ist bereit, Wertvorstellungen und Verhalten den Gruppenvorstellungen gemäß zu verändern. Hierin liegt die gesellschaftliche Relevanz psychotherapeutischer Arbeit in einer Gruppe als Ort „Schöpferischer Freiheit“.(vgl. Walter 1994, 141 ff.)
Dies bedeutet keinesfalls blinde Unterwerfung unter Gruppennormen anstatt angemessener Abgrenzung, Selbstbehauptung und Selbständigkeit. Das Charakteristikum des freigewordenen Menschen ist seine Fähigkeit, in der menschlichen Bindung frei zu bleiben und sich in souveräner Freiheit heraus zu binden (Sperber 1980, 27). Therapie des einzelnen ist gemäß der Wechselseitigkeit des Geschehens immer zugleich auch Therapie der anwesenden und nicht anwesenden Gruppe.
Literatur:
Gerhard Stemberger (Hrsg.): Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis. Gestalttheorie und psychotherapeutische Krankheitslehre
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 098 | 184 Seiten | Preis 25,00 Euro