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Figur/Grund

[EN: figure/ground]

Angelika Böhm, Wien

Das Begriffspaar Figur und Grund in seiner konkreten wahrnehmungspsychologischen Bedeutung geht auf die Forschungsarbeiten des dänischen Psychologen und Phänomenologen Edgar Rubin über visuell wahrgenommene Figuren (1915, 1921) zurück. Das Begriffspaar meint mehr und etwas anderes als das alltagssprachliche „im Vordergrund sein“ oder „im Hintergrund sein“. Gemeint sind vielmehr solche Fälle, wo man in der Wahrnehmung etwas als Figur erlebt, das sich – begrenzt von einer Kontur – von einem darunter liegenden, unter ihm durchgehenden Grund abhebt. Dieses „eins auf dem anderen“ unterscheidet solche Fälle also von Konstellationen, wo zwei Bereiche als nebeneinander liegend wahrgenommen werden, als aneinander angrenzend oder voneinander durch einen Abstand getrennt.

Rubin hat die Phänomenologie dieser Art von Figur/Grund-Erleben insbesondere im Bereich „allgemein mehrdeutiger Figuren, d.h. Figuren, von denen dieselben objektiven Teile bald als Figur, bald als Grund erscheinen können“ (Koffka 1925, 57), ausführlich untersucht. Eine der bei seinen Versuchen verwendeten Vorlagen ist als „Rubinscher Becher“ bekannt geworden.

In der Gestaltpsychologie wurden die Untersuchungen Rubins sehr positiv aufgenommen. Mit Hilfe der eigenen Forschungsbefunde über die Gestalt-Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Wahrnehmung ließen sich die von Rubin beschriebenen Figur/Grund-Phänomene gut erklären und die Erforschung dieser Phänomene fruchtbar weiterführen (vgl. u.a. Ehrenstein, Koffka, Gottschaldt, Metzger, Wagemans).

Wird etwas in der visuellen Wahrnehmung als Figur wahrgenommen, so werden dieser Figur meist folgende Eigenschaften zugeschrieben: hervortretend, relativ fest, nach außen abgegrenzt und geformt, die Aufmerksamkeit auf sich ziehend (Metzger 1950), zudem eindringlicher, fester, dinglicher als der Grund (Koffka 1925). Die Figur wirkt erhaben gegenüber dem Grund und wird besser im Gedächtnis behalten (Metz-Göckel 2014). Was sich für solche Figur-Wahrnehmungen als Grund eignet, ist demgegenüber in der Regel einfacher und chaotischer gestaltet (Koffka 1925), zurücktretend, relativ locker und nach der Figur hin nicht begrenzt, wirkt vielmehr als hinter der Figur durchgehend, mehr oder weniger unauffällig (Metzger 1950). Beim Sonderfall der „Kippfiguren“ (wie dem „Rubinschen Becher“) sind diese Eigenheiten so unentschieden gleichmäßig über das Feld verteilt, dass einmal der eine, dann wieder der andere Feldteil als Figur oder Grund wahrgenommen werden kann.

Selbst bei der visuellen Wahrnehmung wird oft von „Figur auf Grund“ gesprochen, obwohl gar nicht von zweidimensionalen Sachverhalten die Rede ist, sondern eigentlich „Ding im Raum“ gemeint ist. Tatsächlich kann eine Figur auch dreidimensional sein, dann ist ihr Bezugssystem nicht der Grund, sondern der Raum oder das Medium. Fritz Heider hat deshalb die Erweiterung der Begriffe auf Ding und Medium vorgeschlagen (Heider 1927). In der Wahrnehmung der phänomenalen Umwelt ziehen Figuren – eigentlich: Sachverhalte mit der Gestaltqualität des Figürlichen – die Aufmerksamkeit stärker auf sich als Nicht-Figürliches.

Die konkrete Herkunft und Bedeutung des wahrnehmungspsychologischen Figur/Grund-Konzepts sollte also auch nicht vergessen werden, wenn man den Versuch unternimmt, es auf andere Wahrnehmungsbereiche als die visuelle von zweidimensionalen Figuren oder auch auf andere Bereiche des Erlebens zu übertragen. Darauf wird noch am Ende dieses Beitrags am Beispiel des Figur/Grund-Verständnisses in der Gestalttherapie-Literatur eingegangen.

Figur/Grund als Bezugssystem

In der Gestalttheorie nehmen die Figur-Grund-Phänomene einen Platz im übergeordneten, weit darüber hinausreichenden Bereich der Bezugssysteme ein: der Grund ist das Bezugssystem der Figur. In seinem Handbuchbeitrag zur Figuralwahrnehmung bezeichnet Metzger diese als „Sonderfall der Frage nach den Bezugssystemen“, als das geläufigste Beispiel für die „merkwürdige Hierarchie des In-, An- oder Auf-Seins“ von Teil-Feldern im Wahrnehmungsfeld (Metzger 1966, 693). „Welcher der aneinandergrenzenden Feldbereiche Figurcharakter annimmt, bestimmt sich nach Gestaltgesetzen, die mit den Gruppierungsgesetzen weitgehend übereinstimmen (Koffka 1935, Metzger 1953, 1954)“ – er fasst diese Gesetze dort anschließend zusammen (ebenda, 715).

Schon im Bereich der visuellen Wahrnehmung können also vielfältige Bezugssysteme wirksam werden, nicht selten auch mehrere ineinander verflochten. Wolfgang Metzger führt einige Beispiele an, die schon früh erforscht wurden (2001, 156f; dort auch die genaueren Literaturangaben):

  • So wie der Grund zum Bezugssystem von figurhaft wahrgenommenen Sachverhalten wird, wird das anschaulich Umschließende bevorzugt zum Bezugssystem für das Umschlossene (Duncker 1928);
  • das Beständige wird bevorzugt zum Bezugssystem für das Unbeständige, das Eindringliche für das Blasse, das anschaulich Senkrechte für das Waagrechte und Schräge (Oppenheimer 1935);
  • die Randgebiete des Gesichtsfelds werden bevorzugt zum Bezugssystem für das Angeblickte (Duncker 1928);
  • der Boden, auf dem sich etwas befindet, oder der Träger, an dem sich dieses Etwas befindet, wird bevorzugt zum Bezugssystem für dieses Etwas (Oppenheimer 1935, Duncker 1928);
  • das anschaulich Wirkliche (feste und solide) wird bevorzugt zum Bezugssystem für das anschaulich Scheinhafte, Unstoffliche (Linschoten 1952).

Welches Bezugssystem bzw. welches Geflecht von Bezugssystemen in Wahrnehmung, Erleben und Verhalten gerade wirksam wird, hängt also von der konkreten Sachlage ab und wie diese von der Person aufgefasst wird. Nicht immer ist dabei eine Figur-Grund-Abhebung das Bestimmende und auch nicht immer das der Situation Angemessene:

Es gibt auch Fälle, wo die Figur-Grund-Gliederung nicht nur ein mögliches Bezugssystem neben vielen anderen ist, sondern zugleich auch das „schlechteste“ oder „primitivste“. Metzger (2001, 154f.) führt eine Reihe von solchen Beispielen an: das „ausgewählte Volk“ (Figur) inmitten von Barbaren (Grund), der Gläubige (Figur) inmitten der Ungläubigen (Grund), die „klassischen“ Kunststile (Figur) inmitten der „primitiven“ Kunststile (Grund), der „im Grunde gute Mensch“ mit ein paar Makeln bzw. der im Grunde schlechte Mensch mit ein paar wenigen Lichtpunkten. In solchen Fällen hat sich in der konkreten psychologischen Person-Umwelt-Situation der Betreffenden das Bezugssystem einer primitiven Figur/Grundbildung durchgesetzt gegenüber anderen Bezugssystemen, die eine differenziertere und humanere Sicht- und Erlebnisweise ermöglichen würden (vgl. dazu auch die Abhandlung von Fuchs über destruktive Entwicklungen der therapeutischen Beziehung: Fuchs 2020).

Im Unterschied zur Beziehung zwischen dem Teil zum Ganzen kennzeichnet Bezugssysteme (und damit auch die Figur-Grund-Beziehung) die einseitige Begrenzung: „Nimmt man einen Teil aus einem Ganzen, so entsteht eine Lücke; nimmt man aber einen Gegenstand aus seinem Bezugssystem, so bleibt dieses grundsätzlich vollständig. Das optische Figur-Grund-Verhältnis … zeigt diese Beziehung nur in Annäherung; das Widersinnige der einseitigen Begrenzung kann sich da noch auflösen in den Eindruck, dass der ‚Grund‘, der hier die Rolle des Bezugssystems übernimmt, anschaulich durch die Figur ‚verdeckt‘ wird, also unter ihr hindurchgeht, so dass keine ‚doppelte Besetzung‘ desselben Raumgebiets zustande kommt. Der typische und reine Fall ist aber verwirklicht bei der Erscheinung des dreidimensionalen Dinges im Raum, wobei ebenfalls nur das Ding, aber nicht der Raum begrenzt wird, sodass diese tatsächlich durch das Ding hindurchgeht.“ (Metzger 2001, 142)

Nicht alles, was auffällt

In den Gesetzen des Sehens (1975) wendet sich Metzger gegen eine unpräzise Verwendung der Figur-Grund-Begriffe. Er spricht vom „Figur-Grund-Verhältnis zweiten Grades“, wenn sich aus einer Menge artgleicher Glieder ein auffälliges heraushebt und den Blick auf sich zieht: „Die Menge der gleichartigen Glieder nimmt dabei ebenso eine Art von Grund-Charakter an. In manchen Arbeiten (z.B. von Ehrenstein) wird daher das auffallende Glied solcher Gruppen kurzerhand als ‚die‘ Figur bezeichnet. Doch ist dieser Sprachgebrauch unzweckmäßig. Es fehlt ein entscheidendes Merkmal des echten Figur-Grund-Verhältnisses: Der ‚Grund‘ geht hier nicht ununterbrochen hinter der ‚Figur‘ vorbei. Man sollte daher besser von einheitlichen und uneinheitlichen Gruppen sprechen und von artgleichen und artverschiedenen Einzelgliedern.“ (51f)

Auf derartige Fälle nimmt Metzger schon in seiner Psychologie Bezug: „Wenn man in einer Ansammlung unter sich gleichartiger, von einer einfärbigen Fläche abgehobener Gebilde ein vom Rest irgendwie abweichendes Gebilde ‚Figur‘ nennt (Ehrenstein 1928), liegt übrigens das Figur-Grund-Verhältnis ebenfalls schon verdoppelt vor; was bei der theoretischen Abhandlung dieser Fälle leicht übersehen wird, weil die beiden Systeme sich weitgehend decken. Ähnlich verwickelt ist das Figur-Grund-Verhältnis, wenn man einen basso continuo als Grund erlebt, auf dem die Melodie sich als Figur abzeichnet (Ehrenstein 1942, 258ff).; hier besteht sowohl der ‚Grund‘ als auch die ‚Figur‘ schon selbst aus zahlreichen, sich von dem ‚eigentlichen‘, ‚letzten‘ Grund (der Stille) absetzenden Einzelfiguren: den einzelnen Klängen oder gebundenen Klanggruppen.“ (Metzger 2001, 149f)

Man kann also nicht einfach davon ausgehen, dass die Figur-Grund-Gliederung in jeder gegebenen Situation das Bezugssystem des gerade ablaufenden Geschehens ist. Es geht vielmehr immer um die Klärung, welches Bezugssystem gerade in der Wahrnehmung und im Erleben bestimmend ist. Die in der Literatur häufig vorzufindende Verallgemeinerung des Figur-Grund-Prinzips ist deshalb falsch. Alles anschaulich Gegebene (und das sind nicht nur Sachverhalte des Sehens) hat ein Bezugssystem (oder auch mehrere), dieses Bezugssystem ist aber nur in besonderen Fällen das Figur-Grund-System und – wie oben gezeigt wurde – nicht immer das der Situation angemessene.

Vergleich mit der Gestalttherapie-Theorie

Vereinfacht und zugespitzt kann man die Figur/Grund-Auffassung in der Gestalttherapie-Theorie und in der Gestaltpsychologie in drei Punkten zusammenfassen :

1. In der Gestalttherapie-Literatur ist die Figur-Grund-Bildung das Prinzip, nach dem Gestalten entstehen (z.B. „Gestalt wird in der Gestalttherapie als Dynamik des Hervortretens einer Figur vor einem Hintergrund dargestellt.“ Fuhr 2000, 242). In der Gestaltpsychologie dagegen wird die Entstehung, Veränderung und Aufrechterhaltung von Gestalten auf Selbstordnungstendenzen in der belebten und unbelebten Natur zurückgeführt; dabei können sich unter anderem auch Figur-Grund-Phänomene in der Wahrnehmung ergeben, diese sind aber weder die Ursache noch das Wesen der Gestaltbildung.

2. In der Gestalttherapie-Theorie wird die Figur (für sie gleichbedeutend mit Gestalt) durch das gerade aktuelle Bedürfnis und die damit verbundene Aufmerksamkeit erzeugt; sie verschwindet mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses. In der Gestaltpsychologie ist die Figur nicht gleichbedeutend mit Gestalt. Zwar haben manche Gestalten auch die Gestaltqualität des Figurhaften, Gestalten sind aber nicht auf diese Fälle beschränkt. Nach Auffassung der Gestaltpsychologie werden Gestalten auch weder durch die Aufmerksamkeit noch durch die Bedürfnisse erzeugt. Vielmehr richten sich Aufmerksamkeit und Bedürfnisse auf bereits vorgefundene Gestalten, die durch Aufmerksamkeit und Bedürfnisse hervorgehoben und manchmal auch deutlich verändert, aber eben nicht erschaffen werden.

3. In der Gestalttherapie-Literatur wird das Figur-Grund-Prinzip in einer Interpretation, die weder mit den Forschungen von Edgar Rubin noch mit der Gestaltpsychologie vereinbar ist, zu einer Art Generalprinzip menschlichen Erlebens und Verhaltens gemacht. Diese spezielle Figur-Grund-Auffassung ist in der Gestalttherapie-Theorie daher auch tragend für die diversen Kontaktzyklusmodelle und andere Therapiekonzepte. In der Gestaltpsychologie hingegen nimmt das Figur-Grund-Verhältnis einen wesentlich bescheideneren Platz ein. Erstens spielt es nur dort eine Rolle, wo es tatsächlich um „Übereinander-Liegendes“ und nicht um „Nebeneinander-Liegendes“ oder in anderer Weise aufeinander Bezogenes geht. Zweitens ist es auch im erstgenannten Fall nur eines von mehreren möglichen oder tatsächlichen Bezugssystemen. Wer nur in Figur/Grund-Qualitäten wahrnehmen und erleben kann, wäre in einem bedenklichen Zustand: Ob sich beispielsweise jemand als Teil einer Gruppe erlebt oder die Gruppe nur als Grund für sich selbst als Figur, macht einen großen Unterschied. In Momenten existenzieller Gefahr kann seine Welt vielleicht in letzterer Form organisiert sein, ansonsten würde man eine solche Figur-Grund-Organisation wohl eher als bedenklich ansehen müssen.

Daraus ergeben sich dann auch in der Psychotherapie entsprechende Aufgaben, an einer konstruktiven Veränderung solcher Bezugssysteme zu arbeiten.

Literatur


Das klassische Grundlagenwerk zur Gestalttheorie

Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments

Wien: Verlag Wolfgang Krammer

ISBN 978 3 901811 07 9 | 407 Seiten | Preis 45,00 Euro

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