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Ichhaftigkeit/Sachlichkeit

[EN: egocentricity; objectivity]

Brigitte Lustig, Wien

Diesem Aspekt kommt in der Gestalttheoretischen Psychotherapie hoher Stellenwert zu: Der Gefordertheit der Lage entsprechend handeln (Sachlichkeit), von rein persönlichen Interessen absehen können, sich als Teil eines Ganzen verstehen (Wirhaftigkeit) und dadurch erhöhte Beziehungsfähigkeit erlangen. Fritz Künkel (1982) beschreibt den Begriff „Ichhaftigkeit“ als auf eigene Wirkung bedacht sein, alles Handeln auf persönliche Zwecke ausrichten, geleitet von starren Ich-Idealen (fehlerlos, gut, arm sein, leiden etc.). Ichhafte Verhaltensweisen sind etwa Gleichgültigkeit und Fanatismus, es entstehen bloße Scheingemeinschaften. Für Max Wertheimer gilt Künkels „Sachlichkeit“ als Gefordertheit, als wichtiges Kennzeichen des freien Menschen, dessen Handeln von einer in der Umwelt wahrgenommenen Sachlage ausgeht, der sich Ziele setzt, die über das eigene Ich hinausreichen, der eigene Interessen als Teil der Gesamtsituation sieht. Dadurch kann er lebendig, flexibel, produktiv sein. Menschlichkeit/Wirhaftigkeit sind demnach die sachlichen Verhaltensweisen Menschen gegenüber - eine Haltung, nach der man das eigene Beste nicht auf Kosten anderer zu erreichen sucht (vgl. Adler in Metzger 1975, 32).

Wirhaftigkeit bedeutet tolerante Achtung der Interessen anderer, zugleich Entfaltung eigener Möglichkeiten als unentbehrlicher Teil einer Gruppe. Es bedeutet nicht Anpassung an beliebige Gruppenforderungen, sondern tun, was der Gruppe zuträglich ist, was auch nichtkonformes Verhalten bedeuten kann (vgl. Metzger 1975). Diese Haltung zu fördern - sich vorbehaltlos und ehrlich mit dem, was ist, auseinanderzusetzen, eng verknüpft mit dem Streben nach Gerechtigkeit und demokratischem Handeln - ist insofern auch therapeutische Aufgabe, als Unsachlichkeit und Ichhaftigkeit oft maßgeblichen Anteil an den Problemlagen haben, die KlientInnen in die Therapie führen.

Ichhaftigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Ich-Zentrierung. Es gibt Situationen, in denen das Ich auch sachlich gefordert im Zentrum steht. In solchen Fällen besteht die Forderung an das Ich gerade darin, diese zentrale Stellung und Funktion im Ganzen auch tatsächlich wahrzunehmen und auszufüllen. Von Ichhaftigkeit kann also nur gesprochen werden, wo es zu einer Zentrierung auf persönliche Interessen kommt, die im Widerspruch zur sachlichen Struktur und Dynamik der Situation stehen. Diese Unterschiede zwischen Ichzentrierung und Ichhaftigkeit besprechen - auf die Psychotherapie bezogen - Stemberger 2013 und Beneder 2019.

Literatur:

  • Beneder, Doris (2019): Im Fokus der Gruppentherapie: Engagierte Zusammenarbeit. Phänomenal, 11(1), 18-28.
  • Künkel, Fritz (1982): Einführung in die Charakterkunde, 17. Aufl. Stuttgart: Hirzel.
  • Metzger, Wolfgang (1975): Psychologie und Pädagogik zwischen Lerntheorie, Tiefenpsychologie, Gestalttheorie und Verhaltensforschung. Bern.
  • Stemberger, Gerhard (2013): Eine Besonderheit der psychotherapeutischen Situation. Phänomenal, 5(1-2), 27-31.
  • Wertheimer, Max (1991): Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte, Aufsätze 1934 - 1940, hrg. u. kommentiert von H.-J. Walter. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Giuseppe Galli:

Der Mensch als Mit-Mensch.

Aufsätze zur Gestalttheorie in Forschung, Anwendung und Dialog. Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Stemberger

Wien: Verlag Wolfgang Krammer

ISBN 978 3 901811 75 3 | 197 Seiten | Preis 25,00 Euro

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Inhaltsverzeichnis und Einführung von Gerhard Stemberger

ichhaftigkeit_sachlichkeit.txt · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:26 (Externe Bearbeitung)