Dies ist eine alte Version des Dokuments!
Brigitte Lustig, Wien
Diesem Aspekt kommt in der Gestalttheoretischen Psychotherapie hoher Stellenwert zu: Der Gefordertheit der Lage entsprechend handeln (Sachlichkeit), von rein persönlichen Interessen (Ichhaftigkeit) absehen können, sich als Teil eines Ganzen verstehen (Wirhaftigkeit) und dadurch erhöhte Beziehungsfähigkeit erlangen. Fritz Künkel (1982) beschreibt den Begriff „Ichhaftigkeit“ als auf eigene Wirkung bedacht sein, alles Handeln auf persönliche Zwecke ausrichten, geleitet von starren Ich-Idealen (fehlerlos, gut, arm sein, leiden etc.). Ichhafte Verhaltensweisen sind etwa Gleichgültigkeit und Fanatismus, es entstehen bloße Scheingemeinschaften. Für Max Wertheimer (in Walter 1991) gilt Künkels „Sachlichkeit“ als Gefordertheit, als wichtiges Kennzeichen des freien Menschen, dessen Handeln von einer in der Umwelt wahrgenommenen Sachlage ausgeht, der sich Ziele setzt, die über das eigene Ich hinausreichen, der eigene Interessen als Teil der Gesamtsituation sieht. Dadurch kann er lebendig, flexibel, produktiv sein. Menschlichkeit/Wirhaftigkeit sind demnach die sachlichen Verhaltensweisen Menschen gegenüber - eine Haltung, nach der man das eigene Beste nicht auf Kosten anderer zu erreichen sucht (vgl. Adler in Metzger 1975, 32).
Wirhaftigkeit bedeutet tolerante Achtung der Interessen anderer, zugleich Entfaltung eigener Möglichkeiten als unentbehrlicher Teil einer Gruppe. Es bedeutet nicht Anpassung an beliebige Gruppenforderungen, sondern tun, was der Gruppe zuträglich ist, etwa auch nichtkonformes Verhalten (vgl. Metzger 1975). Diese Haltung - sich vorbehaltlos und ehrlich mit dem, was ist, auseinanderzusetzen - ist therapeutisches Ziel, eng verknüpft mit Gerechtigkeit und demokratischem Handeln.
Literatur:
Künkel, Fritz (1982): Einführung in die Charakterkunde, 17. Aufl. Stuttgart: Hirzel.
Metzger, Wolfgang (1975): Psychologie und Pädagogik zwischen Lerntheorie, Tiefenpsychologie, Gestalttheorie und Verhaltensforschung. Bern.
Walter, Hans-Jürgen (1991): Zur Aktualität Max Wertheimers, In: Max Wertheimer, Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte, Aufsätze 1934 - 1940, hrg. u. kommentiert von H.-J. Walter, Opladen. 171-209.