[Dieser Eintrag stützt sich auf Stemberger 2018, Therapeutische Beziehung und therapeutische Praxis in der Gestalttheoretischen Psychotherapie. Praxeologie der GTP Teil 1]
In der Therapietheorie der Gestalttheoretischen Psychotherapie nimmt die erkenntnistheoretische Position des Kritischen Realismus eine Schlüsselstellung ein. Sie bestimmt auch die Sichtweise der therapeutischen Beziehung. Aus kritisch-realistischer Sicht ist nicht von einer therapeutischen Beziehung auszugehen, sondern 1) von einer therapeutischen Situation und Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin in ihrer (der Therapeutin) phänomenalen Welt und 2) einer therapeutischen Situation und Beziehung der Klientin mit ihrer Therapeutin in ihrer (also der Klientin) phänomenalen Welt. Dies im Gegensatz zu einer naiv-realistischen Sichtweise, die die therapeutische Beziehung, wie sie die Therapeutin wahrnimmt und erlebt, als die therapeutische Beziehung betrachtet.
Wir sprechen hier nicht von unterschiedlichen Sichtweisen oder Perspektiven zweier Personen in einer gemeinsamen Wahrnehmungs- und Erlebniswelt (also etwa „durch die Brille der Therapeutin“ und „durch die Brille der Klientin“ gesehen), sondern von zwei unterschiedlichen, voneinander getrennten individuellen Welten, die miteinander nur indirekt in einer komplexen Weise in Kommunikation stehen können. In jeder dieser individuellen Welten ist es der betrendenden Person grundsätzlich möglich, sich in die Position des anderen zu versetzen und die Situation „mit dessen Augen“ zu sehen, dieser andere ist aber immer nur der phänomenal andere, also der andere in der eigenen phänomenalen Welt, nicht jedoch der andere in dessen phänomenaler Welt.
Erlebens- und verhaltensbestimmend für die Klientin ist jedenfalls die therapeutische Beziehung in ihrer phänomenalen Welt und nicht die in der phänomenalen Welt der Therapeutin – und umgekehrt.
Wie hoch die Übereinstimmung zwischen der therapeutischen Beziehung in der phänomenalen Welt der Therapeutin und der in der phänomenalen Welt der Klientin ist, kann nicht einfach angenommen werden, sondern muss im Austausch immer wieder geklärt und abgestimmt werden. Ist diese Beziehung zum Beispiel für die Klientin eine wechselseitig freundschaftliche und für die Therapeutin eine reine Arbeitsbeziehung, so wird das – wenn die Diskrepanz nicht zutage tritt und thematisiert werden kann - über kurz oder lang zu Problemen führen, weil es zu Verhaltensweisen kommt, die in das Bezugssystem des anderen nicht passen und möglicherweise als plötzlicher unerklärlicher Bruch oder Verrat erlebt werden.
Die therapeutische Beziehung in der Welt der Therapeutin kann sich sehr wesentlich von der in der Welt der Klientin unterscheiden. Das wird auch in der folgenden Abbildung angedeutet (Abb. 2 aus Stemberger 2018, S. 23):
In der phänomenalen Welt des Therapeuten ist in diesem Fall die therapeutische Beziehung eine der freundlichen Zugewandtheit des Therapeuten zu einer zwar sehr bedrückten Klientin, mit der aber doch ein guter wechselseitiger Kontakt besteht. In der Welt der Klientin ist die therapeutische Beziehung eine, wo eine völlig entkräftete und hillose Klientin einem überlegenen Therapeuten mit erhobenem Zeigefinger ausgeliefert ist, der kaum wahrnimmt, wie es ihr tatsächlich geht.