Der Begriff psychologische Situation bezeichnet in der Feldtheorie Kurt Lewins die gerade gegebene strukturelle und dynamische Beschaffenheit des Lebensraums, also der Person und ihrer Umwelt, in ihrer inhaltlichen Bedeutung für die betroffene Person. Sie ist insofern streng zu unterscheiden von der soziologischen („objektiven“) Situation der Person, als sie nur umfasst, was für die Person selbst gerade als Lebensraum besteht und welche inhaltliche Bedeutung diese Gegebenheiten für sie haben. Die berühmte Formel Lewins für das Verhalten lautet „Verhalten ist eine Funktion von Person und Umwelt“: V = f(P/U) (Lewin 1963/2012, 271). Diese Formel lässt sich auch schreiben: V = f(S), „Verhalten ist eine Funktion der psychologischen Situation“.
Diese Formel gilt für jedes psychische Geschehen, also auch für das Erleben im weitesten Sinn. Lewin schreibt: „Ist V das Verhalten oder sonst irgendeine Art psychischen Geschehens und S die Gesamtsituation einschließlich der Person, so ist V als eine Funkton von S darzustellen: V = f (S)“ (Lewin 1969, 31).
Die Schreibweise V = f(P/U) statt einfach V = f(S) hat Lewin nur deshalb gewählt, weil in der Psychologie unter Situation meist nur die Umwelt der Person verstanden wurde. Zur Erklärung psychischen Geschehens braucht es aber Darstellungen der Gesamtsituation, d.h. des Zustandes der Person wie der Umwelt“. Da Lewin in der psychologischen Terminologie keinen entsprechenden Situationsbegriff vorfand, führte er für diese dynamische Gesamtheit den Begriff des Lebensraums ein (vgl. Lewin 1969, 31).
Der Ausdruck Situation bezieht sich nach Lewin entweder auf die allgemeine Lebenssituation eines Menschen oder auf eine Momentansituation. Mit beidem ist immer die für die Person gerade gegebene Situation gemeint, nicht etwa, wie andere diese Situation sehen oder wie man sie „objektiv“ einschätzen könnte. Lebenssituation und Momentansituation sind miteinander eng verknüpft: „Je nach dem Problem, um das es sich handelt, tritt manchmal die Lebenssituation, manchmal die Momentansituation stärker in den Vordergrund„ (ebenda, 45).
Es stellt sich im konkreten Fall immer die Frage (auch im psychotherapeutischen Kontext), inwieweit jeweils zum Verständnis der Gesamtsituation eines Menschen und seines Verhaltens seine psychologische Lebenssituation mit einzubeziehen ist. „Obschon das Ganze der Lebenssituation in irgendeiner Weise alles Verhalten mitbestimmt, ist das Ausmaß dessen, was explicite in die Darstellung des Lebensraumes einzubeziehen ist, In verschiedenen Fällen recht verschieden“ (Lewin 1969, 44).
Ob man aus der Momentansituation heraus handelt oder aus der gesamten Lebenssituation, hängt jeweils vom Problem oder der Aufgabe ab, mit dem oder der man konfrontiert ist. Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung etwa lässt die Gesamtsituation des Lebens in den Vordergrund treten und das Erleben und Verhalten bestimmen (vgl. Galli 2021).
Eine Mehrzahl gleichzeitig bestehender psychologischer Situationen können wir nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Differenzierung in Lebenssituation und Momentansituation antreffen. Auch innerhalb dieser allgemeinen Differenzierung treten immer wieder überlappende und nebeneinander bestehende psychologische Situationen auf.
Von überlappenden Situationen spricht man, wenn zwei oder mehr Situationen gleichzeitig existieren und einen gemeinsamen Teil besitzen. Die Person steht dann im Allgemeinen in diesem gemeinsamen Teil (Lewin 1969, 224).
Überlappende Situationen können eine Vorstufe zur Ausbildung einer Mehrzahl von psychologischen Situationen sein, die jeweils über ein eigenes Ich und damit über eine eigene Person/Umwelt-Gliederung verfügen. Damit befasst sich der Mehr-Felder-Ansatz, den Gerhard Stemberger aufbauend auf Untersuchungen von Edwin Rausch (1982) auch für die Psychotherapie vorgeschlagen hat (vgl. Stemberger 2009, 2018). Auch hier trifft zu, dass die einzelnen Situationen jeweils zur gegebenen Zeit ein bestimmtes relatives Gewicht hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Erleben und Verhalten der Person im Ganzen besitzen.
Literatur: