[EN: emotion-centered approach; „working with emotions“, feelings]
[Der Eintrag gibt auszugsweise den Beitrag von Stemberger & Sternek 2019 wieder. Für Zitierzwecke sollte der Originalbeitrag herangezogen werden.]
Über Gefühle kann in sehr unterschiedlicher Weise gesprochen werden und es ist wenig hilfreich, wenn diese verschiedenen Bedeutungen durcheinandergebracht oder miteinander vermischt werden.
Im erkenntnistheoretischen bzw. ontologischen Sinn sind Gefühle bestimmte Bewusstseinszustände, also bestimmte dynamische Beschaffenheiten der phänomenalen Welt, die auch Entsprechungen im physiologischen Bereich haben, in der Hirntätigkeit wie auch in anderen körperlichen Vorgängen (z.B. Erröten, Erblassen, schnellerer oder angehaltener Atem usw.).
Im phänomenologischen Sinn haben Gefühle in der Regel bestimmte Träger, die diese Gefühle „haben“, und sind durch jeweils spezielle dynamische Beziehungen zwischen diesen „Trägern“ und anderen Personen oder Sachverhalten in der phänomenalen Welt ausgezeichnet.
Fragt man also aus der erkenntnistheoretischen bzw. ontologischen Warte, was Gefühle sind, fragt man aus der phänomenologischen Warte nach dem Erleben der Gefühle. Man kann sich viel Verwirrung in diesen Fragen ersparen, wenn man auf diesen Unterschied achtet (vgl. dazu auch die entsprechenden Differenzierungen des Bewusstseinsbegriffs bei Tholey 2018).
Im Gefühlserleben ist in ganzheitlicher Weise prägnant, wer man gerade in welcher Welt ist und was sich daraus unmittelbar ergibt, welche Bedürfnisse und Ziele diese Welt gerade beherrschen und welche Kräfte in ihr wirken. Das Fördern des Gefühlserlebens ist in diesem Sinn Bestandteil von Klärungsprozessen, kein Selbstzweck. Das Fehlen klarer Gefühlserlebnisse zeigt kein „Persönlichkeitsdefizit“ an, sondern eine unklare Situation.
Gefühle sind aus gestalttheoretischer Sicht jedenfalls nicht als bloß innerpersonales Geschehen, also als Vorgänge „im Inneren“ einer Person anzusehen, sondern als Feldgeschehen in dynamischer Wechselwirkung zwischen der erlebten Person und ihrer erlebten Umwelt.
Wenn zum Beispiel ein Mensch wütend ist, so hat sich nicht nur seine Person „in ihrem Inneren“ verändert, sondern er ist zu einem „Wut-Menschen“ in einer „Wut-Welt“ geworden, zu der er in einer „Wut-Beziehung“ steht. Die Welt polarisiert sich, Person und „Wut-Objekt“ werden zur Figur, alles andere versinkt im Hintergrund; der physiologische Erregungszustand steigert sich; Person und „Wut-Objekt“ verlieren alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die sie außerhalb der Wut-Situation haben – die verbleibenden Eigenschaften sind in „Wut-Eigenschaften“ umgewandelt; das Wesen der Gesamt-Situation ist die des Unerträglichen, Unannehmbaren, das auf der Stelle zu vernichten ist, womit die Situation aber noch unannehmbarer zu werden droht….
Gefühle sind demnach ein ganzheitliches dynamisches Geschehen, das Vorgänge in der erlebten Person ebenso mit einschließt wie Vorgänge in der erlebten Umwelt und in der Wechselbeziehung zwischen beiden. Die therapeutische Aufmerksamkeit darf also nicht nur auf den erlebten Gefühlszustand der Person gerichtet werden, sondern in gleichem Maß auf ihre erlebte Umwelt und die dynamische Wechselbeziehung mit ihr.
Im erkenntnistheoretischen Sinn werden Gefühle zugleich als psychophysisches Geschehen verstanden, das Menschen (und nicht nur sie) sich auch untereinander anmerken können. Das Gefühlserleben wirkt daher oft auch hinaus in die physikalische Umwelt – und über diese vermittelt kann es auch in den phänomenalen Welten anderer Menschen erkennbar und wirksam werden. Für die psychotherapeutische Praxis hat dieser Umstand vielfache Konsequenzen: Er bildet die Grundlage dafür, dass Klientin und Therapeutin auch „ohne Worte“ etwas von den Gefühlsbewegungen ihres Gegenübers mitbekommen (und davon auch beeinflusst werden). Und er bildet auch die Grundlage dafür, dass die Therapeutin mit dem Ansprechen von körperlichen Veränderungen (z.B. des veränderten Atems), die sie bei ihrem Gegenüber wahrnimmt, die Aufmerksamkeit der Klientin auf veränderte Gefühlszustände lenken kann, die dieser zu diesem Zeitpunkt vielleicht gar nicht bewusst waren.
Wir hören und lesen von „Gefühlen“, aber auch von „Affekten“ und dann wieder von „Emotionen“. Bedeuten diese Begriffe alle das Gleiche oder meinen sie Unterschiedliches?
Eine einheitliche Definition dieser Begriffe existiert in Literatur und Forschung nicht, aber wir können aus gestalttheoretischer Sicht sagen, wo wir einen sinnvollen Unterschied zwischen diesen Begriffen sehen. Vereinfacht gesagt, ist es der:
Mit dem Begriff der Affekte kann man sinnvoll die den Gefühlen entsprechenden Erregungs- und Spannungszustände ansprechen, deren Anzeichen jemand anderer an mir feststellt (das Zittern der Hände, das Feuchtwerden der Augen, die Anspannung der Kiefermuskulatur…), unabhängig davon, ob ich selbst sie bereits als Gefühle erlebe.
Von Gefühlen hingegen sollte man sprechen, wenn es um Sachverhalte des eigenen Erlebens (oder des Erlebens eines anderen) geht.
Der Begriff der Emotion liegt in gewisser Weise dazwischen: Er spricht im Wortsinn die Bewegung an, die einen in bestimmten Gefühlszuständen erlebnismäßig ergreifen kann oder die darin als erlebte Bewegung in der erlebten Umwelt (zu jemandem oder etwas hin oder von jemandem oder etwas weg) angelegt sein kann – insofern wären wir also beim Gefühl (unter Hervorhebung des Bewegungsaspekts). Es kann sich aber auch um eine Bewegung handeln, die ich selbst noch gar nicht erlebe, die mir aber andere bereits ansehen oder anmerken – hier wären wir demnach beim Affekt (ebenfalls unter Hervorhebung des Bewegungsaspekts)
Ein Mensch kann klare Gefühlserlebnisse haben, zugleich aber gewohnheitsmäßig, aus kulturellen Gründen oder aufgrund konkreter situativer Gegebenheiten wenig davon „nach außen“ zeigen. Kurt Lewin hat das verschiedentlich so dargestellt (z.B. Lewin 1969, 189), dass eine starke Abgrenzung die inneren Bereiche der Person so abschirmt, das davon relativ wenig in die äußeren, motorischen Schichten der Person und damit in sein Ausdrucksverhalten vordringen und für andere Menschen sichtbar werden kann.
Davon zu unterscheiden ist die Situation, dass jemand innerhalb seiner phänomenalen Welt sein Gefühlserleben (und damit auch die Ganzwahrnehmung seiner Lage) relativ stark gegenüber seinem sonstigen Wahrnehmen und Erleben abgrenzt, unter Umständen sogar „abspaltet“. Hier geht es in der Psychotherapie darum, die Funktion eines solchen Vorgangs zu verstehen, statt z.B. auf unmittelbarem Gefühlserleben und Gefühlsausdruck „zu bestehen“.
Eine solche Abkapselung oder Abspaltung kann sich in nicht bewussten Anspannungen und sonstigen Veränderungen im Organismus manifestieren, über deren Wahrnehmung ein aufmerksames Gegenüber Hinweise auf den affektiven Zustand des anderen erhalten kann. Werden solche Anspannungen oder sonstige Veränderungen (z.B. Änderungen des Atmens, der Hautfärbung, das Feuchtwerden der Augen u.dgl.) von diesem Gegenüber angesprochen, kann es bei der betroffenen Person zum Gewahrwerden ihrer Anspannungen und der damit verbundenen psychologischen Sachverhalte kommen und damit auch zu einem entsprechenden Gefühlserleben.
In der zwischenmenschlichen Begegnung – beispielsweise auch in der Psychotherapie – kann das „Zeigen und Mitbekommen“ starker Gefühlserlebnisse bei den Beteiligten zu einer Intensivierung der Begegnung und einem intensiveren zwischen-menschlichen Austausch führen. Gerade weil Gefühle das Wesen – die Art, Färbung und Richtung – meines In-der-Welt-Seins bzw. Bezogen-Seins auf etwas fassen oder widerspiegeln, sind sie auch für das Verstehen und Sich-Verstanden-Fühlen zwischen Menschen wichtig.
Es gibt aber auch Situationen, wo das Mitbekommen starker Gefühlserlebnisse beim Gegenüber von einem „Abblocken“ dieses Erlebens begleitet wird. Sowohl auf Seiten der Klientin als auch auf Seiten der Therapeutin kann es für ein solches „Abblocken“ unterschiedliche Gründe geben; auf Seiten der Therapeutin wird es vor allem darauf ankommen, den eigenen Impuls zum „Abblocken“ wahrzunehmen und damit zur Entscheidung fähig zu sein, ob sie diesem Impuls nachgeben sollte oder ob es eine für beide Seiten konstruktivere Art des Umgangs mit der Situation gibt, als sich gegenüber dem Gefühlserleben des anderen zu „anästhesieren“.
Paul Tholey:
Gestalttheorie von Sport, Klartraum und Bewusstsein. Ausgewählte Arbeiten, hrsg. und eingeleitet von Gerhard Stemberger
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 76 0 | 310 Seiten | Preis 36,00 Euro