In der Gestalttheoretischen Psychotherapie wird klar zwischen Traum, Traumerinnerung und Traumerzählung bzw. Traumbericht differenziert. Darin unterscheidet sich die Gestalttheoretische Psychotherapie vom „Arbeiten mit Träumen“ in anderen Therapierichtungen (wie zum Beispiel der Gestalt-Therapie), bei denen diese Differenzierungen nicht vorgenommen werden, was dazu führt, dass insbesondere der dialogische und Beziehungscharakter der Traumerzählung mit all seinen therapeutischen Implikationen verloren geht (vgl. dazu das Arbeiten mit Traumberichten in der Gestalttheoretischen Psychotherapie.
Vieles, was über die Besonderheiten des Traums ausgesagt wird, stellt sich in einem anderen Licht dar, wenn man diese Differenzierungen berücksichtigt. Es macht einen großen Unterschied, ob ich z.B. sage: „In meinen Träumen passieren meist die verrücktesten Dinge“, oder ob ich sage „Soweit ich mich überhaupt an Träume erinnere, dann nur an Verrücktes, das darin passiert ist“. Damit verschiebt sich der Fokus von den tatsächlichen oder vermeintlichen Besonderheiten des Träumens auf die Besonderheiten des Erinnerns. Es spricht vieles dafür, dass zumindest einige der Besonderheiten, die dem Träumen zugeschrieben werden, tatsächlich solche des Erinnerns sind.
Die gestalttheoretische Forschung hat einige solche Besonderheiten des Erinnerns herausgearbeitet:
Die Traumerinnerung in der Therapiestunde ist aber nicht nur Ergebnis solcher Auswahlprozesse, sie ist vor allem auch Einbettung des Ausgewählten in ein neues Ganzes, nämlich die inzwischen gegebene Lebenssituation und aktuell die therapeutische Situation. Daran ändern auch Traumtagebücher und ähnliche Versuche, die Erinnerung sofort nach dem Aufwachen festzuhalten, nichts Entscheidendes. Ordnung und Bedeutung dessen, was in der Therapiestunde erinnert wird, werden letztlich nicht durch ihre Details und auch nicht durch die Vergangenheit bestimmt, sondern durch die gegenwärtige Situation mit ihren gegenwärtigen Bedürfnisspannungen, mit denen die Traumerinnerung zugleich auch mehr auf Zukünftiges als auf Vergangenes verweist.
Die Gestalttheoretische Psychotherapie teilt nicht die Auffassung, dass jeder Aspekt des Traums ein Anteil der träumenden Person sei, ein Anteil, den sie in gewissem Maße von sich abgespalten und auf andere Objekte "projiziert" hat (zum Projektionsbegriff vgl. Fuchs 2016). Auch wenn im Schlaf die sensorischen Verbindungen zwischen dem Organismus und seiner physikalischen Umwelt weitgehend unterbunden sind und die gesamte Motorik des Organismus während des Träumens vom erlebten Körper-Ich weitestgehend dissoziiert ist, differenziert sich die Erlebniswelt im Traum in der Regel genauso in ein erlebtes Ich und eine erlebte Umwelt aus wie auch in der Wachwirklichkeit. Physiologisch ist das nach gestalttheoretischer Auffassung darin begründet, dass die entsprechenden Differenzierungen in der Organisation der Gehirnaktivität auch im Schlaf grundsätzlich fortbestehen.
Die Vorannahme, dass es eine „reale Außenwelt“ nur im Wachbewusstsein gibt, daher alles im Traum „außen“ Erscheinende demnach nur projizierte Teile der eigenen Person sein können, ist also falsch. Das heißt aber nun keinesfalls im Umkehrschluss, dass es nie vorkommen kann, dass uns im Traum (wie ja auch im Wachzustand) etwas „außen“ - von uns getrennt oder abgespalten - begegnet, was tatsächlich zu uns selbst gehört. Vom kritisch-realistischen Standpunkt der Gestaltheorie aus sind „Projektionen“ durchaus nicht auszuschließen, sie sind - um es in den Worten des Gestaltpsychologen und Klartraumforschers Paul Tholey auszudrücken - „durchaus denkbar – in der Form funktionaler Auswirkungen personinnerer Vorgänge auf das phänomenale Umfeld – und aufgrund zahlreicher empirischer Befunde auch wahrscheinlich…“ (Tholey 1980, 181).
Ein abschließender Hinweis zum Tagtraum: Dieser unterscheidet sich vom Traum während des Schlafs vor allem dadurch, dass er im Wachzustand stattfindet, die sensorischen Verbindungen zwischen dem Organismus und seiner physikalischen Umwelt also weitgehend erhalten bleiben und damit auch eine vollständige Erlebniswelt (ein primäres phänomenales Gesamtfeld) gleichzeitig und neben der Erlebniswelt des Tagtraums. Es handelt sich dabei also um einen besonderen Fall des geteilten Bewusstseins. Diese beonderen Bewusstseinszustände hat Gerhard Stemberger im Anschluss an Forschungsarbeiten von Edwin Rausch im Mehr-Felder-Ansatz für die Psychotherapie fruchtbar gemacht (siehe Stemberger 2018, wo auch die Beziehung zum Traum und Klartraum erläutert wird).
Siehe auch:
Paul Tholey: Gestalttheorie von Sport, Klartraum und Bewusstsein. Ausgewählte Arbeiten, hrsg. und eingeleitet von Gerhard Stemberger
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 76 0 | 284 Seiten | Preis 36,00 Euro