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Maria Seidenschwann (Wien) und Gerhard Stemberger (Wien und Berlin)
Nach gestalttheoretischer Auffassung weist jedes seelische Gebilde (jeder seelischer Vorgang, jede Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Verhaltensgestalt) eine bestimmte Zentrierung auf. Unter den Teilen, Stellen, Richtungen, Eigenschaften einer psychischen Gestalt besteht eine Rangordnung, in bestimmten Fällen ein Ableitungsverhältnis. Diese Gewichtsverteilung und Zentrierung gehört zum Wesen des Gebildes oder Ereignisses und ist nicht erst in es hineinprojiziert.
Die Zentrierung bestimmt nicht nur das Gesamtgefüge und den Charakter einer Sache, sondern hat auch für deren funktionales Verhalten entscheidende Bedeutung. Dabei erfolgen Zentrierungs- und Umzentrierungsvorgänge im Sinne des Prägnanzgesetzes „in jedem Augenblick so, dass die größte unter den gegebenen Gesamtbedingungen mögliche Ordnung bzw. die besten (einfachsten, regelmäßigsten, dichtesten, symmetrischsten, glattesten, geschlossensten, untereinander gleichartigsten, oder am besten zueinander passenden) Gestalten sich verwirklichen, die unter diesen Bedingungen möglich sind“ (Metzger 1954 in 1986, 129).
Diese natürliche Zentrierung von psychischen Gestalten ist außer von deren innerer Struktur auch vom Bezugssystem abhängig. Veränderungen des Bezugssystems können die Bedeutung einer Gestalt verändern und Gesichtspunkte, die bis dahin zweitrangig waren, durch eine Veränderung der Zentrierung in den Vordergrund stellen.
Auf die Bedeutung der Zentrierung und Umzentrierung für das Wahrnehmen, Denken (produktives Denken, Problemlösen) und Verhalten hat Max Wertheimer immer wieder hingewiesen:
„Obschon es vielfach starke Kräfte gibt, die gegen die rechte Zentrierung wirken, ist gleichwohl im menschlichen Wesen ein klares Verlangen, nicht strukturell blind zu sein, ein Bedürfnis, sachgemäß zu zentrieren, der Lage gerecht zu werden, im Einklang mit der Natur des Gegenstandes, mit den strukturellen Forderungen der Sache zu zentrieren. Hinsichtlich des Begriffs der Zentrierung scheint man doch stillschweigend anzuerkennen, dass sachgemäße Zentrierung mit ihren Auswirkungen auf Sachlichkeit und Gerechtigkeit von äußerster Wichtigkeit ist.“ (Wertheimer 1964, 159; zu den Ideen Wertheimers zur Zentrierung siehe Galli 2010b)
In seiner Analyse der Zentrierungsverhältnisse im anschaulichen Gesamtfeld des Menschen (einschließlich des wahrnehmenden und handelnden Subjekts), die für den Psychotherapeuten aus vielen Gründen von besonderem Interesse sind (Stichwort Ichhaftigkeit/Sachlichkeit), spricht Metzger von einem ganzen „System voreinander gelagerter Zentren, deren Zusammenfallen oder Auseinanderklaffen und deren gegenseitiges Gewichts- und Abhängigkeitsverhältnis für ganz bestimmte Bewusstseinszustände kennzeichnend und für die Art und Wirksamkeit des Verhaltens entscheidend ist“ (Metzger 2001, 194). Dabei unterscheidet er folgende Zentren, die in ihrer wechselseitigen Beziehung zu betrachten sind:
Auf die besonderen Zentrierungsverhältnisse in der Psychotherapie gehen Stemberger 2013 und Beneder 2019 ein. Eine Reihe von Beispielen für Umzentrierungsvorgänge in Gruppen führt Sader an (2008, 126ff). Giuseppe Galli hat in seiner Analyse der Feldstruktur der Hingabe (Galli 2000 u. Galli 2005, 49-67) dargestellt, wie beim gleichzeitigen Bestehen unterschiedlicher Ziele, Strebungen und Motive in einer bestimmten Situation eine Zentrierung auf einen Bereich erfolgt, während die anderen ausgeklammert werden. Maria Armezzani (2010) hat die Anwendung der Zentrierungsbegriffe Metzgers auf die Untersuchung der Person ausgedehnt. In Untersuchungen mit Krebs-Patienten und -Patientinnen beschreibt Galli einen Wertewandel im Zuge der Auseinandersetzung der Patienten mit ihrer Krankheit, der am besten mit der Kategorie der Zentrierung analysiert werden kann (Galli 2010b, 30-32).
Das klassische Grundlagenwerk zur Gestalttheorie
Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments
Wien: Verlag Wolfgang Krammer
ISBN 978 3 901811 07 9 | 407 Seiten | Preis 45,00 Euro