[EN: Gestalt therapy]
Die von Fritz und Laura Perls, Paul Goodman und anderen begründete Psychotherapiemethode Gestalt-Therapie ist ein tiefenpsychologischer, phänomenologisch und experimentell orientierter Psychotherapieansatz. Er wurzelt in sehr unterschiedlichen theoretischen Konzepten, von denen nur eines unter vielen anderen die Gestaltpsychologie ist. Nicht zuletzt wegen der Heterogenität und Widersprüchlichkeit ihrer theoretischen Grundlegungen, die durch sozio-kulturelle und geistesgeschichtliche Verschiedenheiten in den hauptsächlichen Verbreitungsgebieten der Gestalttherapie noch verstärkt wurden1), hat sich die Gestalt-Therapie international inzwischen in sehr unterschiedliche Strömungen ausdifferenziert. Damit stellt sich bisweilen die Frage, inwiefern es noch gerechtfertigt ist, diese divergenten Strömungen weiterhin unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenzufassen (ein Schicksal, dass sie auch mit anderen Psychotherapiemethoden teilt, allen voran mit der Psychoanalyse). Bisher ist jedoch eine hohe Bereitschaft dieser verschiedenen Strömungen zu beobachten, sich als eine Gemeinschaft zu verstehen und die bestehenden Differenzen miteinander „auszustreiten“.
Als theoretisches Grundlagenwerk der Gestalt-Therapie gilt nach wie vor das Buch „Gestalt-Therapie - Lebensfreude und Persönlichkeitsentwicklung“ von Frederick S. Perls, Ralph F. Hefferline und Paul Goodman, dessen englische Originalfassung 1951 in New York erschien. Dass es eine Reihe widersprüchlicher, miteinander unvereinbarer Konzepte enthält2), ist heute weitgehend unbestritten - wie damit umzugehen ist, darüber gehen die Meinungen jedoch auseinander (Fritz Perls selbst mochte sich später mit diesem Buch nicht mehr identifizieren). Hat man früher - um unterschiedliche Ausprägungen der Gestalt-Therapie zu bezeichnen - von Unterschieden in „Stilen“ gesprochen („Westküsten-Stil“, „Ost-Küsten-Stil“), so steht heute mehr die Differenzierung in „relationale Gestalt-Therapien“ und solchen im Vordergrund, die die damit gemeinten Veränderungen für eine Verfälschung der ursprünglichen Konzepte der Gestalt-Therapie halten.
Die Heterogenität der verschiedenen Ansätze der Gestalt-Therapie macht es auch schwer, die Beziehung zwischen der Gestalttheoretischen Psychotherapie und „der“ Gestalt-Therapie zu beschreiben. Es kommt eben darauf an, auf welche Strömung der Gestalt-Therapie man Bezug nimmt und welches Gewicht man ihren jeweiligen theoretischen Begründungen beimisst.
Auf der einen Seite liegt es auf der Hand, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Therapiemethoden gibt, was ihre grundsätzliche Sichtweise der therapeutischen Aufgabe und Herangehensweise betrifft. Diese Gemeinsamkeiten teilen nicht nur diese beiden Methoden, sondern noch eine Reihe anderer (wie etwa die person- und klientenzentrierten Ansätze nach Rogers und das Psychodrama), weshalb auch öfters von einer Familie oder einem „Cluster der Humanistischen Psychotherapiemethoden“ die Rede ist. Was das Verhältnis GTP und Gestalt-Therapie betrifft, sind diese Gemeinsamkeiten umso ausgeprägter, wenn man an die Strömungen in der Welt der Gestalt-Therapie denkt, die sich der „relationalen Wende“ der Gestalt-Therapie verpflichtet fühlen und sich auch stärker (und in einer kompetenteren Weise) auf die Gestaltpsychologie beziehen.3)
Auf der anderen Seite sind eben auch die Unterschiede zwischen den beiden Methoden deutlich, wobei es auch hier wieder darauf ankommt, auf welche Strömung der Gestalt-Therapie man schaut und für wie repräsentativ und aussagekräftig man ihre jeweiligen theoretischen Erläuterungen hält. Dementsprechend variierten auch in den letzten Jahrzehnten in der gestalttheoretischen Literatur zu diesem Thema die Einschätzungen und Bewertungen zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten 4). Umgekehrt gibt es auch eine Reihe namhafter Gestalt-Therapeuten, die ihrerseits die Beziehung zwischen Gestal-Therapie und Gestaltpsychologie kontroversiell diskutieren - von der Befürwortung einer stärkeren Bezugnahme auf die Gestaltpsychologie (z.B. Sherrill 1986, Wollants 2008/2012, Spagnuolo-Lobb u.v.a.m.) bis zur Empfehlung, diese Bezugnahme aufzugeben und stattdessen die Wurzeln im amerikanischen Pragmatismus stärker herauszuarbeiten (z.B. Bloom 2006).
Nimmt man als Raster für den Vergleich der beiden Therapiemethoden hinsichtlich ihrer konzeptionellen Grundlegung den „Tree of Science“ von H. Petzold (1993, S. 476), so zeigen sich auf vielen dieser Ebenen doch recht erhebliche Auffassungsunterschiede. Diese beginnen ausgeprägt auf der metatheoretischen Ebene, kommen dann aber auch auf der realexplikativen und praxeologischen Ebene zum Tragen. Das kann hier nur andeutungsweise ausgeführt werden:
Während die GTP erkenntnistheoretisch vom Kritischen Realismus ausgeht, folgen die meisten gestalt-therapeutischen Konzeptionen einem naiven Realismus oder dem radikalen Konstruktivismus nahe stehenden Ideen. Die Grundauffassungen zur Ethik sind in der GTP situativ-relational5), in vielen gestalt-therapeutischen Strömungen relativistisch ausgeprägt. Unterschiede zeigen sich verschiedentlich auch in den anthropologischen Konzeptionen, also im Menschenbild, die in einigen Varianten von Gestalt-Therapie noch von mono-personalen Modellen geprägt sind. Wissenschaftstheoretisch orientiert sich die GTP an der phänomenologisch-experimentellen Methodik der Gestalttheorie, während in der Gestalt-Therapie die diesbezüglichen Auffassungen zu heterogen sind, um sie hier auch nur annähernd „auf einen Nenner“ zu bringen.
In der allgemeinen Therapieauffassung teilen GTP und Gestalt-Therapie viele Grundideen, unterscheiden sich aber in ihrem Verständnis des therapeutischen Feldes und des Beziehungsgeschehens in der Therapie, was auch zu einer Reihe von Unterschieden in der Praxeologie führt. So teilt etwa die GTP nicht die in der Gestalt-Therapie noch weit verbreiteten Konzepte des „Organismus-Umwelt-Feldes“ und des „Kontaktzyklus“, um nur zwei Beispiele zu nennen.6) Auch die Persönlichkeitstheorie, die Entwicklungstheorie und die Gesundheits- und Krankheitslehre sind in den beiden Methoden sehr unterschiedlich ausgeprägt. In der speziellen Theorie der Therapie sind eine Reihe von Konzepten, die für die GTP theoretisch und praxeologisch wesentlich sind, in der Gestalt-Therapie unbekannt (wie etwa die handlungsleitenden Kennzeichen der Arbeit mit dem Lebendigen, der Mehr-Felder-Ansatz oder das Konzept der Macht-Felder).
Dass sich die erwähnten Unterschiede auch in den Vorstellungen über angemessene Haltungen und Vorgangsweisen in der therapeutischen Praxis niederschlagen, ist zu erwarten. Ausformuliert wurden diese Unterschiede bisher erst selten und nur anhand ausgewählter Themen wie etwa dem Umgang mit Traumberichten in der Therapie (Stemberger 2019).
Es sei allerdings davor gewarnt, aus den angesprochenen Unterschieden und Übereinstimmungen in den theoretischen Konzepten vorschnell auf Unterschiede und Übereinstimmungen im tatsächlichen Verhalten von Gestalt-Therapeuten und Gestalttheoretischen Psychotherapeuten oder auch überhaupt anderer Psychotherapeuten zu schließen. In das Erleben und Verhalten von TherapeutInnen geht immer nur ein, was die jeweilige konkrete Person auch tatsächlich verstanden, akzeptiert und mit ihren sonstigen Auffassungen vom Menschen und der Welt integriert hat und dann auch mit dem vereinbaren kann, was ihr oder ihm in der konkreten therapeutischen Arbeit begegnet - und das kann sich oft sehr wesentlich von den theoretischen Konzepten der erlernten Methode unterscheiden.