Der Begriff steht in der Gestalttheoretischen Psychotherapie an zentraler Stelle; Umstrukturierungsprozesse finden bei allen Einsichtsprozessen statt. Ziel der Gestalttheoretischen Psychotherapie ist es, die Umstrukturierung des Lebensraumes eines Menschen anzuregen, so dass dieser fähig wird, in Eigenverantwortung den Anforderungen seines Lebens in angemessener Weise, der Situation und dem zu lösenden Problem gemäß, nachzukommen.
Dieses Ziel entspricht dem Menschenbild der Gestalttheoretischen Psychotherapie, die den Menschen als ein sich selbst organisierendes Wesen sieht, das in schöpferischer Freiheit sein Leben gestalten kann. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich auf Umstrukturierungsprozesse in den Denkabläufen, im Gefühls- und Empfindungsbereich, im Umgang mit anderen Menschen, aber auch Aufgaben und Pflichten betreffend, einzulassen mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Dies zulassen zu können, wird gefördert durch die in jedem Menschen wirkende Tendenz zur guten Gestalt (auch Prägnanztendenz genannt), die in den Gestaltgesetzen ausformuliert wird):
Die Tendenz zur guten Gestalt bedeutet das dem Menschen innewohnende Bedürfnis, einer Sache auf den Grund zu gehen, sich selbst nicht zu belügen, die wahre Struktur einer Aufgabe, Situation, eines Problems zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten, sich der Gefordertheit der Lage gemäß zu verhalten:
„….eine Situation“ wird dann „auf eine neue und tiefere Weise erfasst … - worauf das Feld sich erweitert und ausgebreitetere Möglichkeiten sich den Blick eröffnen.“ (Wertheimer 1964, 145). Alle Schritte, die unternommen werden, sei es im Denken, Fühlen, Empfinden oder Tun, stellen eine in sich geschlossene Einheit dar; kein Schritt geschieht willkürlich und unverstanden in seiner Funktion im Ganzen. Es ist kein Fortschreiten von einem Datum zum anderen, sondern alles entwickelt sich aus der Betrachtung der Gesamtsituation hin zu den Einzeldaten. Diese werden als Teile dieses Ganzen aufgefasst, aufeinander bezogen und in dynamischer Wechselwirkung zueinander stehend, innerhalb des Ganzen und zur Gesamtsituation selbst.
Ausgangspunkt der Umstrukturierung ist eine Anfangssituation mit struktureller Unklarheit, eine Störung oder Lücke, die eine seelische Spannung bewirkt und Kräfte in Richtung auf eine strukturelle Berichtigung der Situation in Gang setzt. Therapeut und Klient betreiben im psychotherapeutischen Prozess - theoretisch ausgedrückt- Phänomenologie, eine Kraftfeldanalyse‚ vertrauend auf das Wirken der Tendenz zur guten Gestalt: Die Teilgegebenheiten der Ausgangssituation in ihrer Rolle und Funktion zueinander ( und auf das Ganze bezogen) verwandeln sich in Richtung eines bestimmten Endzustandes, dem Zug des Ziels folgend, „sodass … die Dinge als Teile einer neuen, klaren Struktur gesehen werden können.„ (Wertheimer 1964, 191)
Im Hinblick auf das Problem erfolgt ein Wandel hin zu einer guten Gestalt. Wesentlich dabei ist die Umzentrierung, „wenn man den wahren Mittelpunkt, wie er der Natur der Situation gemäß ist, ins Auge fasst.“ (Wertheimer, 159) Dies bezieht sich auf das eigene Tun, auf die Zielvorstellungen einer Person, auf ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Befürchtungen, auf die Haltung bzw. Einstellung eines Menschen anderen Menschen und den Aufgaben des Lebens gegenüber. Hier ergibt sich auch die Verbindung zu gesellschaftlichen und ethischen Fragen (Ich-Haftigkeit, Wir-Gefühl, Ethik).
Im psychotherapeutischen Prozess wird daran gearbeitet, zuerst einmal das Problem zu erkennen, die konkrete Situation im Lichte des Problems zu betrachten, und zunächst ist nur eine nebelhafte Ahnung in eine bestimmte Richtung da, bis die Lage wirklich klar wird und Kräfte entstehen, die auf Veränderung drängen. Der wesentliche Vorgang besteht in einer Neuordnung hinsichtlich des gegebenen Problems. Dies kann viel Zeit erfordern, denn jeder Schritt muss vollzogen werden im Widerspruch zu einer vielleicht schon lang bestehenden Fehlzentrierung hin zu einer guten Gestalt mit klarer, in sich widerspruchsfreier Struktur. (zit. nach Wertheimer, 217).
„Solche Änderungen sind … oft dramatisch …. Streng genommen ist der ganze Vorgang oft eine Art Drama mit mächtigen dramatischen Impulsen … von der Verwirrtheit …‚ zum wirklichen Erfassen und zum. Begreifen dessen, was sachlich gefordert ist.“(Wertheimer, S.66f.) Oft beobachtet man Zeichen starker Spannung in den „Menschen, Überraschung, Ungewissheit und am Ende plötzliche Erleichterung.“ (Wertheimer 1964, 67)
Literatur:
Max Wertheimer: Produktives Denken. Hrsg. und eingeleitet von Viktor Sarris (Neuauflage 2019)
Berlin: Springer Spektrum
E-Book ISBN 978-3-662-59821-4 | 300 Seiten | Preis für das E-Book 29,99 Euro Softcover ISBN 978-3-662-59820-7 | 300 Seiten | Preis für das Druckexemplar 39,99 → Bestellmöglichkeit